Deutsch-deutsche Ortswechsel

"Der Pfarrer muss das Licht ausmachen"

Blick auf die Nikolaikirche im Zentrum von Leipzig im Gegenlicht der gleißenden Sonne
Die Nikolaikirche in Leipzig. Vor allem in den 50er-Jahren kamen mehr als 200 Pfarrer aus der Bundesrepublik in die DDR. © picture alliance/dpa(Hendrik Schmidt
Von Michael Hollenbach · 09.11.2014
Bis 1989 gingen immer wieder Pastoren in die DDR, um dort das Evangelium zu verkünden. Es gab aber auch die umgekehrte Bewegung von Kollegen, die den Osten verließen. Trotz aller Widerstände, denn sie ernteten Kritik und ein zeitweiliges Berufsverbot.
Jürgen Henkys hatte in Göttingen, Heidelberg und Bonn Theologie studiert. Dann hörte er Anfang der 50er-Jahre den Hilferuf eines Studentenpfarrers aus Halle, in der DDR würden dringend junge Theologen benötigt. Da habe er sich – mit 24 Jahren - von Gott berufen gefühlt, in den Osten zu gehen:
"Ich habe auch im Gebet und in der Meditation viel darüber nachgedacht und habe den Entschluss aber nicht zurückgenommen, obwohl er mir – je länger, je mehr – schwierig wurde."
Als er dann im Dezember 1953 mit seiner Frau in dem Dorf Groß-Mehßow ankam, konnten es die Menschen dort nicht glauben, dass die beiden sich freiwillig dazu entschieden hatten, von Düsseldorf in die Niederlausitz umzusiedeln. Für Henkys, der sich im Westen politisch in der GVP, der Gesamtdeutschen Volkspartei von Gustav Heinemann engagiert hatte, war der Unterschied gewaltig:
"Es war ja für uns ein unglaublicher Bruch, den wir – weltlich gesprochen – als großes Abenteuer erlebten, aber auch als wunderbare Führung."
"Es war in allen Fällen die mir bekannt sind eine idealistische Motivation: Da werde ich gebraucht. Die haben von dem großen Pfarrermangel gehört und haben gesagt: Wenn wir ernst nehmen wollen, was wir in der Theologie lernen, dass man berufen wird, dann müssen wir uns auch dahin rufen lassen."
Vor allem in den 50er-Jahren kamen mehr als 200 Pfarrer aus der Bundesrepublik in die DDR, sagt Karl Heinrich Lütcke. Der frühere Probst ist Vorsitzender des Vereins für Berlin-Brandenburgische Kirchengeschichte.
"Es hat mich beindruckt, wie Menschen ganz bewusst in dem Wissen, man verdient weniger, es wird für die Familien schwieriger, gesagt haben: Da, wo unser Dienst gebraucht wird, da müssen wir hingehen. Das sind ganz eindrückliche Lebensläufe, wie auch die Familien, die dahinter standen, das mitgetragen haben. Wenn die verheiratet waren, dann zog die Frau mit."
Oft stieß der Entschluss, aus der freiheitlich-demokratischen Bundesrepublik in die DDR zu wechseln, bei Freunden und Verwandten auf wenig Verständnis:
"Natürlich hat es Leute gegeben, die gesagt haben: Der spinnt ja. Oder auch unterstellt haben, ob der ein heimlicher Freund der DDR ist. Aber es war ganz deutlich: Es waren Leute, die gesagt haben, gerade da, wo die Kirche angefochten ist, da muss man hin, um zu helfen."
Zuzugsgenehmigungen nur in Ausnahmefällen
Allerdings reagierte die SED sehr reserviert: Im Februar 1951 hatte das Politbüro beschlossen, Pfarrern aus dem Westen nur in Ausnahmefällen eine Zuzugsgenehmigung zu erteilen.
"Da hat es immer wieder neue Probleme (mit der Zuzugsgenehmigung) gegeben. Es wurden Leute mit West-Berliner Personalausweis, die im Osten auf eine Stelle kommen sollten, wieder zurückgeschickt. Und wenn jemand im Westen studiert hatte, dann war das für die DDR-Regierung ein Kriterium zu sagen: den wollen wir eigentlich nicht."
Einige Theologen gingen aber auch nicht ganz freiwillig in die DDR. Einige, die aus ostdeutschen Landeskirchen stammten, aber im Westen Theologie studiert hatten, wollten lieber dort bleiben.
"Da haben die Landeskirchen gesagt: ihr gehört zu uns und da sind sicherlich einige wohl nur mit leichtem Druck gekommen, nicht nur freiwillig."
Mit dem Mauerbau 1961 war es mit dem Pfarrerwechsel von West nach Ost bis auf wenige Einzelfälle vorbei. Dagegen verließen seit 1961 immer mehr (Ost-)Pfarrer die DDR. Bis zur friedlichen Revolution waren es mehr als 200. Einer von ihnen war Martin Brunnemann. Er hielt es in der DDR nicht mehr aus. Bis 1984 war er Pfarrer in der Lausitz, in der Kleinstadt Forst. Bevor er bei den DDR-Behörden seinen Ausreiseantrag stellte, fuhren er und seine Frau nach Cottbus, um der Kirchenleitung zu erläutern, warum sie in den Westen wollen:
"Da war die Antwort: Wenn Sie das tun, dann verlieren Sie Ihren Dienst, sobald Sie den Antrag gestellt haben. Und auf diese Auskunft hin habe ich gesagt: Gut, dann stellen wir ihn nächste Woche."
Im Dezember 1984 erhielt Martin Brunnemann die staatliche Erlaubnis, mit seiner Frau und den vier Kindern in die Bundesrepublik ausreisen. Bei Pfarrern war die atheistische SED mit Ausreisegenehmigungen recht kulant. Doch bevor Brunnemann abreiste, erhielt er noch einmal kirchlichen Besuch:
"Dann erschien der Superintendent und sagte, er wolle meine Ordinationsurkunde haben. Daraufhin habe ich zu ihm gesagt, die gebe ich ihm nicht, denn über meinen Fall ist in der Kirchenleitung meines Wissens noch nicht verhandelt worden."
Trotz dieser Weigerung – als Martin Brunnemann schon im Westen war, musste er seine Ordinationsurkunde an seine Landeskirche zurückschicken. Das bedeutete zumindest ein zeitweiliges Berufsverbot, wie bei fast allen Pfarrern, die der DDR seit dem Mauerbau den Rücken gekehrt hatten. Ohne Ordinationsurkunde bekam keiner von ihnen im Westen eine Pfarrstelle.
"Es gab dann die Regel: man entzieht ihnen die Rechte der Ordination oder lässt sie ruhen, und sie müssen zwei Jahre warten, bis sie im Westen eine Stelle kriegen."
Axel Noack, zu DDR-Zeiten Pfarrer im Kreis Bitterfeld und von 1997 bis 2008 Bischof der Kirchenprovinz Sachsen, hat wenig Verständnis für jene Pfarrer, die in den Westen gegangen sind:
"Es ist ein Verlassen der Gemeinde, und das ist schon auch ein schweres Delikt, das geht nicht für einen Pfarrer. Und wir haben auch die Meinung vertreten: Der Pfarrer muss das Licht ausmachen – als letzter vielleicht, aber vorher kann er nicht gehen."
Kritik an der Haltung der ostdeutschen Kirchen
Mit ihrer Haltung, die Pfarrer möglichst nicht ausreisen zu lassen, stießen die ostdeutschen Kirchen in der westdeutschen Öffentlichkeit auf massive Kritik. Die Zeitschrift "Der Spiegel" warf 1961 der Kirche ein "geistliches Standrecht" vor, weil sie versuchte, über die Freizügigkeit ihrer Pfarrer zu verfügen.
Auch in den westdeutschen Landeskirchen gab es gelegentlich Kritik, doch die Kirchenleitungen hielten sich an die Vorgaben ihrer ostdeutschen Partnerkirchen. Die Pfarrer, die ohne ausdrückliche Erlaubnis ihrer Kirchenleitung in den Westen übersiedelten, erhielten für mindestens zwei Jahre keine Anstellung. Diese Sperrfrist wurde in den jeweiligen Landeskirchen sehr unterschiedlich geregelt. Auch Martin Brunnemann bekam nur Ablehnungen:
"Es gab auch solche Kirchen wie Hessen-Nassau, da wurde mir geschrieben: 'Wir würden Sie noch zwei Jahre dazu verknacken!' Verräter werden so behandelt. Also ich bin behandelt worden wie ein Hund."
Martin Brunnemann war zunächst arbeitslos, bevor er in einem christlichen Jugenddorfwerk als Sozialpädagoge arbeiten durfte. Erst fünf Jahre nach seiner Übersiedelung erhielt er die Ordinationsrechte zurück. Der Umgang mit den ehemaligen DDR-Pfarrern sei innerhalb der EKD, der Evangelischen Kirche in Deutschland, bis heute nicht aufgearbeitet, sagt Alt-Bischof Axel Noack. Die Sichtweisen waren sehr unterschiedlich.
"Insofern, dass die Kirchen im Westen sagen: Naja, wir haben es akzeptiert, dass ihr so ward, aber verstanden haben wir es eigentlich nicht. Ihr hättet doch froh sein müssen über jeden, der rausgeht, und wir haben immer gesagt: Nein, das kann nicht sein. Wer hier seine Pfarrstelle verlässt, der kann nicht Pfarrer sein."
Jürgen Henkys, der 1953 als Pfarrer in die Niederlausitz umgesiedelt war, wurde später Dozent an der Kirchlichen Hochschule im Osten Berlins und danach Theologieprofessor an der Humboldt-Universität. Seinen Wechsel von Nordrhein-Westfalen nach Ostdeutschland habe er nie bereut, sagt der heute 85-Jährige.
"Mein Weg ist ja auch so begründet gewesen: Es kann ja nicht der ganze Protestantismus aus dem Osten auswandern. Die evangelische Kirche kann doch nicht dazu bestimmt sein, aus politischen Gründen das Feld zu räumen und alles der neuen Ideologie zu überlassen."
Auch 25 Jahre nach dem Ende der DDR ist die Pfarrerhilfe von West nach Ost und die Flucht von Ost nach West ein weitgehend unerforschtes Kapitel der deutschen Kirchengeschichte. Noch immer wirken die alten Sichtweisen auf das damalige Verhalten der Seelsorger – und diese Sichtweisen unterliegen bis heute einer starken Ost-West-Prägung.
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