"Der Zuschauer wird auf sich selbst zurückgeworfen"

Bong Joon-ho im Gespräch mit Holger Hettinger · 01.08.2010
In den Filmen des südkoreanischen Regisseurs Bong Joon-ho dominiert eine wilde Mischung aus verschiedenen Genres. Er überspanne diese Genres, was zu einer Verunsicherung des Publikums führe, sagt Bong. So auch in seinem jüngsten Film "Mother".
Holger Hettinger: Sie machen Krimis, Sie machen Filme, in denen Monster eine ganz große Rolle spielen. Dieses Anregende beziehen Ihre Filme ja auch dadurch, dass da sehr virtuos gespielt wird mit den einzelnen Gesetzmäßigkeiten des Genres. Ist das auch so ein bisschen so eine Lust von Ihnen, das ja spielerisch umzusetzen und hier gerade mit den einzelnen Genres – sei es jetzt Krimi, sei es Monsterfilm – auf ironische und teilweise auch ein bisschen gebrochene Weise umzugehen?

Bong Joon-ho: Ich arbeite ziemlich intuitiv. Diese wilde Mischung aus verschiedenen Genres mag ich sehr gerne. Dabei versuche ich aber, die einzelnen Elemente ganz organisch zusammenzusetzen. Im ersten Moment glaubt sich der Zuschauer in einem tragischen Familiendrama, wird emotional aufgerüttelt, dann wird er wie die Mutter im Film zum Detektiv und fragt sich, wer der Mörder ist. Dabei versuche ich, die Grenzen des jeweiligen Genres immer weiter zu überspannen, sodass sich der Film irgendwann jeder Einordnung entzieht. Ich nehme also das Publikum zunächst an die Hand, aber es gibt immer einen Punkt, an dem die Formelhaftigkeit des Genres nicht mehr greift. Das führt zu einer Irritation, Verunsicherung. Der Zuschauer wird auf sich selbst zurückgeworfen, er muss sich selbst ein Bild machen.

Hettinger: Am Beginn Ihres Films gibt es eine Szene, da geschieht ein Autounfall mit einem Mercedes. Fahrerflucht schließt sich an, das Ganze endet dann in so einer Art Racheszenario. Ich habe gedacht, na ja gut, ist vielleicht ein Autounfall, aber hatte so ein bisschen das Gefühl, dieser Unfall, der steht für was, gerade auch diese Fahrerflucht. Wofür?

Bong : Ich brauchte zu Beginn eine extreme Situation, weil ich die besonderen Eigenarten der Charaktere verdeutlichen wollte und die überängstliche, fast schon besitzergreifende Liebe der Mutter, die Begriffsstutzigkeit und Hilflosigkeit des Sohnes, die allumfassende Wut seines Freundes. Gleichzeitig konnte ich durch die Fahrerflucht die sozialen Unterschiede einführen: Die Mercedesbesitzer, die denken, dass sie sich alles leisten können, die Ohnmacht der weniger Privilegierten, die sehr umständlich arbeitende Polizei. Nach dem Unfall mit Fahrerflucht bekommt man als Zuschauer direkt ein Gefühl für die Stimmung in dem kleinen Provinzstädtchen, aber auch für die Gemütszustände der Helden und Heldinnen.

Hettinger: Und da steht eine gestörte Beziehung im Zentrum, nämlich die zwischen einer Mutter und ihrem Sohn. Es handelt sich hier um ein inzestuöses Verhältnis. Wie ist solch eine Beziehung in Korea bewertet? Ist die Tatsache, dass Sie ein Inzestdrama ins Kino bringen, ist das ein arger Tabubruch in Korea?

Bong: Der Inzest wird ja nicht explizit gezeigt. Gut, man sieht, dass sich Mutter und Sohn ein Bett teilen und dass es zu Berührung kommt. Doch wollte ich, dass alles im Nebel bleibt. Ich habe das bewusst offen gehalten, um Fragen aufzuwerfen, um Spannung aufzubauen. Letztlich bleibt es dem Zuschauer überlassen, die extreme Beziehung zwischen Mutter und Sohn selbst zu interpretieren. Ohnehin lassen sich menschliche Beziehungen nicht so leicht auf einen Nenner bringen. Auch Mutter und Sohn sind sich nicht darüber im Klaren, in welchem Verhältnis sie eigentlich zueinander stehen. Der Mordfall ist wie ein Prüfstand für ihr bisheriges Dasein. Und um auf Ihre Frage zu antworten: Der Körperkontakt zwischen Mutter und Sohn ist in Korea nicht sonderlich tabuisiert. Es gibt da womöglich eine andere Selbstverständlichkeit als in Europa.

Hettinger: In dem Dorf wird ein Mädchen umgebracht und der Sohn, der ist so ein bisschen leicht gestört, der wird dann verdächtigt, der Mörder zu sein. Und seine Mutter, die macht sich dann auf, um die Unschuld zu beweisen, und auf dem Weg dorthin, da begegnet sie weiteren ja man muss schon fast sagen gestörten Charakteren. Irgendwie scheint es in dem ganzen Film keine Person zu geben, die so was wie ein moralisches Koordinatensystem, ein intaktes moralisches Koordinatensystem in sich trägt. Für was stehen diese einzelnen Figuren, also zum Beispiel diese Schülerinnen und Schüler? Man hat so das Gefühl, die sind alle pervers, da dreht sich alles nur um sexuelle Obsessionen. Für was stehen diese Figuren?

Bong: Da haben Sie wohl recht. Dieser Film wimmelt nur so von skurrilen Gestalten. Ich stelle mich nun mal sehr gerne auf die Seite von Menschen, die als Außenseiter gelten, die nicht sonderlich akzeptiert sind. Ich nehme ihre Perspektive ein, deshalb wird der Zuschauer aufgefordert, sich in ihre Lage zu begeben. Dadurch überschreitet er hier mit der Mutter permanent Grenzen, gesetzliche und moralische. Mit diesem Arsenal seltsamer Wesen will ich aber auf gesellschaftliche Probleme hinweisen, die bei uns ansonsten kaum thematisiert sind. Tatsächlich kommt es in Korea des öfteren zu Prostitutionsfällen an Schulen. Und diese Mädchen in Schuluniformen scheinen gerade auf ältere Männer einen besonderen Reiz auszuüben. Zudem wird die Mutter mit der Sexualität ihres Sohnes, aber auch anderer Jugendlicher konfrontiert. Häufig haben Mutterfiguren in Filmen jedoch etwas Asexuelles. Indirekt kommt sie hier aber wieder mit ihr in Berührung. Das fand ich sehr spannend.

Hettinger: In Ihrem Film "Mother" wird, ebenso wie in Ihren anderen Filmen "The host" oder "Memories of a murder", da wird so richtig aufrichtig gesoffen. Find ich also ganz erstaunlich, was da an Alkohol weggepichelt wird! In "Mother" gibt es eine Szene mit dem Anwalt, die Mutter wird zu dem Anwalt zu einem Getränk eingeladen, und dann wird ein Whiskyglas in ein Bier gestellt. Das fand ich extrem, was ist das für ein Drink?

Bong: Salopp gesagt: In Korea gibt man sich gerne die Kante. Wir sind ein trinkfreudiges Volk wie die Polen oder die Iren. Und es muss schnell gehen. Bei der Arbeit muss man den ganzen Tag funktionieren, die Hierarchien einhalten, die Emotionen zurücknehmen. Nach Dienstschluss will man dann den ganzen Dampf ablassen. Dazu eignet sich dieser Drink, der deshalb auch Bombdrink heißt, besonders gut. Die Trinkgelage in meinen Filmen sind nun wirklich nicht übertrieben. Die kommen eins zu eins aus der Wirklichkeit und sind überhaupt nicht ungewöhnlich. Auch das für westliche Betrachter vielleicht ungewöhnliche Benehmen gehört zur Tagesordnung, etwa die betrunkenen Männer, die in Restaurants immer einschlafen.

Hettinger: Ich habe gelesen, die Frau, die in Ihrem Film die Mutter spielt, das ist eine sehr bekannte Schauspielerin in Korea, die aber eher so auf diese mütterliche Familienrolle abonniert ist, also so dieses warmherzige Spiel, man könnte sagen, so die koreanische Entsprechung zur Mutter Beimer, also so ein Hütehund, immer zu Hause, und die spielt dort in einer Serie, die schon ganz, ganz lange läuft. War es schwer, so eine Frau zu so einer ja doch extremen Rolle zu überreden?

Bong: Ich hatte auch erst Bedenken, Hye-ja Kim überhaupt zu fragen. Aber sie sagte direkt zu, weil sie keine Lust mehr auf diese ganzen mütterlichen Mutterrollen hatte. Sie fand es unheimlich spannend, die monströse Seite einer Mutterliebe zu zeigen. In der Fernsehserie hat sie immer eine sehr warmherzige Ausstrahlung, jetzt konnte sie andere Facetten zeigen: eine eiskalte Wut, die ihr Gesicht hart erscheinen lässt. Sie schreckte auch vor der Szene mit dem Blutbad nicht zurück, stattdessen wollte sie immer noch mehr Blut ins Gesicht geschminkt bekommen. Ich habe sehr viel Respekt vor ihrem Mut, sich nicht weiter auf ihrem Image als Mutter der Nation auszuruhen.

Hettinger: Die Mutter verdient ihr Geld mit Akupunktur und durch ihren Beruf kennt sie eine Stelle am Oberschenkel und wenn man da hineinpiekst, dann kann man die schlechte Erinnerung auslöschen. Also, auf mich wirkte das wie so eine Art, wie soll man sagen, wie so eine Art Verdrängung. Doch in Ihrem Film davor, "The Host", da geht es ja gerade darum, dass die Verdrängung ganz schlimme Konsequenzen hat, nämlich dass das, was man da verdrängt, als Monster dann wieder an die Oberfläche kommt. Wie gehen diese zwei doch sehr unterschiedlichen Botschaften zusammen?

Bong: Es ist für mich schwierig, auf diese Frage eine passende Antwort zu geben. Aber wenn man sich die jüngste Geschichte Koreas anschaut, dann sieht man, dass die Moderne, der Turbokapitalismus nur so schnell Einzug halten konnten, weil andere Ereignisse verdrängt wurden: Die japanische Besatzung, die Militärregierung, das waren Zeiten, die viele Opfer und Wunden mit sich brachten. Diese Wunden lasse ich in meinem Filmen stets aufplatzen. Die Trauer, Verzweiflung kommt meistens mit aller Gewalt zum Vorschein. Während in meinem vorherigen Film "The Host" das Monster die Leichen der politischen Vergangenheit unseres Landes ausspuckte, müssen sich hier zwei Menschen ihrer privaten Geschichte stellen. Da kommt man mit Akupunktur nicht weiter.