Schauplätze der Literatur

Der Wunsch, im Rosenhaus zu leben

Das Gartenhaus von Johann Wolfgang von Goethe in Weimar
Das Gartenhaus von Johann Wolfgang von Goethe in Weimar diente Adalbert Stifter als Vorbild für sein "Rosenhaus". © picture-alliance / dpa / Werner Backhaus
Von Adolf Stock · 06.01.2017
Adalbert Stifter beschreibt in seinem Roman "Nachsommer" einen Ort der Harmonie und Bildung. Um 1900 wurde das im Roman dargestellte Rosenhaus zum Idealbild der neuen Bürgerlichkeit: So sehr, dass Architekten versuchen, es nachzubauen.
Seit Martin Luther 1525 mit seiner Familie in einem ehemaligen Kloster wohnte, gab es in Wittenberg ein erstes protestantisches Pfarrhaus. Als Keimzelle eines bürgerlichen Lebens hat es seitdem Karriere gemacht. Es wurde zum Prototyp für ein bescheidenes, sinnerfülltes Leben. Viele Pfarrkinder sind später Schriftsteller geworden.

Luther als Inbegriff des Bürges

Stefan Rhein ist Direktor der Luther-Gedenkstätten in Sachsen-Anhalt. Er führt durch das Lutherhaus in Wittenberg, wo der Reformator seit seiner Heirat mit seiner Familie lebte:
"Im 19. Jahrhundert wird Luther nicht nur als Reformator gefeiert. Er wird vor allem als Inbegriff des deutschen Bürgers verherrlicht. Und das ist ganz faszinierend, das deutsche Pfarrhaus bezieht sich hier auf das Lutherhaus, das – wenn man ins 16. Jahrhundert schaut – aber gar kein Pfarrhaus war, denn Luthers Haushalt war ein Gelehrtenhaushalt. Luther war Universitätsprofessor. Er war nicht Stadtpfarrer, und gleichwohl: In der Imagination des 19. Jahrhunderts ist dieses Familienleben, dieses Gelehrtenleben hier im Lutherhaus vorbildlich geworden, ja eigentlich für das Leben jedes deutschen Pfarrers im deutschen Pfarrhaus."

1857 ist Adalbert Stifters Roman "Nachsommer" erschienen. Im Mittelpunkt steht das Rosenhaus, ein Ort der Harmonie und Bildung, das einem säkularisierten Pfarrhaus ähnelt. Mit Goethes Gartenhaus in Weimar fand Stifter noch ein weiteres Vorbild für sein Rosenhaus.
Zeitgenössisches Porträt des österreichischen Schriftstellers Adalbert Stifter (1805-1868).
Zeitgenössisches Porträt des österreichischen Schriftstellers Adalbert Stifter (1805-1868).© picture-alliance
Als das Buch 1857 erschienen, lag es wie Blei in den Regalen. Kritikern und Lesern kam die perfekte Nachsommer-Welt sterbenslangweilig vor. Eine Welt ohne Abgründe, in der es weder Tod noch Teufel gab. Im Roman passiert wenig, und die Geschichte ist schnell erzählt. Der Schriftsteller Arnold Stadler hat sie in einem Satz zusammengefasst:
"Ein Ich-Erzähler aus gediegenen Wiener Kaufmanns-Verhältnissen kommt eines Tages auf einer Wanderung ins Gebirge, in der Meinung, ein Gewitter nahe sich, wird er von einem alten Herrn am Rosentor eines schönen Anwesens auf einem Hügel eingelassen und bleibt; erst einmal für eine Nacht, dann fürs Leben."

Idealbild einer neuen Bürgerlichkeit

Um 1900 wurde die "Nachsommer"-Welt zum Idealbild einer neuen Bürgerlichkeit, für die auch schon Luther vereinnahmt wurde. Damals sollte Stifters literarische Utopie endlich Wirklichkeit werden. Architekten hatten den "Nachsommer" gelesen und begannen, das Rosenhaus nachzubauen.
Die Schüler von Theodor Fischer, der in München Architektur lehrte, mussten während des Studiums das Rosenhaus zeichnen. 20 Jahre später machte es der Architekt und Hochschullehrer Paul Schmitthenner mit seinen Stuttgarter Studenten ebenso. Er war besonders eifrig, seine Architekturtheorie hatte er bei Stifter umstandslos abgeschrieben.
Es gibt also eine substanzielle Verbindung zwischen Pfarrhaus, Rosenhaus und Literatur. Das Pfarrhaus als Keimzelle für ein bürgerliches Leben - und wie eine literarische Utopie Wirklichkeit werden sollte.

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