Der Wirklichkeit oft verstörend nahe

Von Volkhard App · 19.04.2012
Frankfurter Kunstverein und das Museum für Moderne Kunst werfen in ihrer gemeinsamen Ausstellung einen Blick auf die Gegenwartsfotografie. An drei Ausstellungsorten zeigen sie mehr als 270 Arbeiten von knapp 40 Künstlern.
So nah war der Betrachter dem furchtbaren Zeitgeschehen noch nie wie in der Installation von Gustav Metzger. Denn er muss sich in einen engen Raum zwischen Wand und schwerem Vorhang zwängen und steht dann einem großen Foto unmittelbar gegenüber, ohne es gleich identifizieren zu können: Es sind Opfer der Gewaltakte am Tempelberg im Jahre 1990. Der Schock stellt sich mit Verzögerung ein.

In die Nähe hat derselbe Künstler in einer anderen Installation ein demoliertes Auto gestellt, aus dem Kinderstimmen zu hören sind:

"Kill the car! Kill the car!"

"Töte das Auto" rufen die Kleinen, und auf einem riesigen Foto im Hintergrund toben tatsächlich einige Kinder während einer Straßenrebellion in London auf einer Karosserie. "Making History" : Michael Schmidt zeigt seine essayistische Fotoserie von 1989 / 90. Berlin mit eher unscheinbaren Ecken und verfallenden Bauten: ernüchternde Einblicke mitten im Aufbruch. Während Sven Johne Archivfotos aus den Jahren zwischen 1945 und 2000 gesammelt hat, deren ostdeutsche Motive - wie unterschiedlich auch immer - alle im Schnee angesiedelt sind: der Osten als einzige Winterlandschaft.

Schnell wechseln in den drei Häusern die Länder, Zeiten und Blickwinkel. Fast schon an altmeisterliche Malerei erinnern die Panorama-Fotos von Luc Delahaye: breit ins Bild gesetzt sind eine päpstliche Zeremonie im Petersdom und eine von Journalisten belagerte OPEC-Konferenz. Die Kuratoren Peter Gorschlüter und Celina Lunsford:

Gorschlüter: "Making History handelt von der Macht öffentlicher Bilder: Welche Bilder beeinflussen uns, welche prägen uns heute? Und wie reagieren Künstler darauf, wie gehen sie mit öffentlichen Bildern in ihren Arbeiten um und wie konstruieren sie in ihren Werken Geschichte?"

Lunsford: "Wichtig ist: wir wollten von Anfang an die Idee vom neuen Historienbild erkunden. Welche Ereignisse spielen eine Rolle - und wie gehen Künstler damit um in der Vielfalt des fotografischen Materials?"

Spannend ist die breit angelegte Schau, wenn Fotografen nach geschichtlichen Spuren suchen - wie Jo Ractliffe , die Jahre nach dem angolanischen Bürgerkrieg die versehrte Landschaft aufgenommen hat. Reste von Schützengräben, auf einem Foto erscheint ein Mann mit Minensuch-Gerät. Künstler als politisch sensible Zeitgenossen, Peter Gorschlüter über die Auswahl der Arbeiten:

"Wir haben tatsächlich überlegt, welche künstlerischen Herangehensweisen an das zeitgenössische Historienbild es gibt, wie heute von der Geschichte erzählt wird - und haben dabei verschiedene Strategien gefunden: Künstler, die der Reportage nahestehen oder die geschichtliche Ereignisse verfremden und inszenieren. Künstler auch, die mit Bildern arbeiten, die uns in den Medien, in Internet, Werbefotografie und Marketing begegnen und unser Verständnis von Gegenwart und Geschichte beeinflussen. Und dann haben wir Künstler ausgewählt, die unserer Meinung besonders bestechend mit diesen Ideen und diesem Material umgehen."

Von Thomas Demand bis zu Jeff Wall reicht das Spektrum in Frankfurt am Main. Wobei eben der Umgang mit medial bereits vermittelten Bildern von Bedeutung ist. Gelegentlich versuchen Künstler sogar, Bildikonen nachzustellen. Dann rekonstruieren sie den Kniefall von Willy Brandt oder erinnern an die vietnamesischen Kinder, die voller Angst vor dem Krieg auf die Kamera zuliefen - die heutigen Akteure sind allerdings ausgestattet mit Einkaufstaschen und modernen Konsumartikeln. Ein Foto, das banal und provokativ in einem ist.

Als gestandene klassische Pressefotografin ist Barbara Klemm einbezogen - mit einigen Ikonen: Rudi Dutschke und Daniel Cohn-Bendit vor einem Transparent, Joschka Fischer erscheint in Turnschuhen zur Vereidigung, Breschnew und Brandt tauschen sich mit erster Miene aus. Vielleicht hatte die Fotografin ja schon während ihrer Arbeit das Gefühl, Historienbilder modernen Typs zu schaffen, die sich einprägen werden:

"In dem Moment, in dem man arbeitet, ist man damit beschäftigt, ein gutes Bild zu machen und ich versuche das Erlebte einzufangen, wenn ich das Gefühl habe: hier passiert vielleicht ein Stück Geschichte. Aber nicht jedes Treffen, nicht jeder Inhalt ist gleich Geschichte. Wenn man dagegen weiß, dass der Generalsekretär aus der Sowjetunion zum ersten Mal nach Bonn kommt, die Bundesrepublik besucht, dann ist einem schon klar, dass man da vielleicht ein Stück Geschichte festhalten kann."

Verblüfft steht der Betrachter vor der Fotoserie eines palästinensischen Künstlers: der hat nicht nur die israelischen Wachtürme an der Grenze zum Westjordanland aufnehmen lassen, sondern die Bilder so gereiht, dass sie an die Serien von Bernd und Hilla Becher mit alten Industriebauten erinnern. Holger Kube Ventura, Chef des Frankfurter Kunstvereins:

"Die Bechers haben die Industrie-Architekturen in enzyklopädischer Weise fotografiert in dem Wissen, dass sie verschwinden würden. Es ging ihnen darum, etwas zu bewahren, es zu systematisieren. Wenn Taysir Batniji jetzt das Gleiche tut, also vorgibt, dass diese Architekturen, die Wachtürme verschwinden, dann steckt dahinter natürlich ein Wunschdenken - aus palästinensischer Sicht wohl sehr nachvollziehbar."

Kein Mangel an stilistischer Vielfalt. "Making History” ist ein ambitionierter Auftakt des aufwendigen "Ray”-Projekts, das sich zu einer Triennale mausern soll. Für die Frankfurter Kunst-Institute ist die Zusammenarbeit ein spürbarer Fortschritt - und dem Besucher bietet "Making History” ein beeindruckendes Panorama von Positionen, die der Wirklichkeit oft verstörend nahe sind.