Der Weg zur inneren Ruhe

Von Rebecca Roth · 30.07.2011
Mehr als fünf Millionen Deutsche üben regelmäßig Yoga, etwa 20.000 Yogalehrer soll es in Deutschland geben. Damit ist ein riesiger Markt entstanden. Doch was steckt hinter diesem Boom?
"Achtung es geht los, tief einatmen, haltet den Atem, hebt das Steißbein bisschen hoch, es geht meistens nicht, aber denkt es, ausatmen, Oberkörper geht nach oben, quetscht die Decke wie irre zusammen."

Ein loftartiger Raum im Westen Berlins. Auf weinroten Yogamatten liegen rund 35 schlanke Menschen in Leggins und eng anliegenden Muskelshirts. Angestrengt heben sie Oberkörper und Beine in die Luft. Gleichzeitig pressen sie zwischen den Schenkeln eine zusammengerollte Decke zusammen. Einigen zittert die Bauchdecke vor Anstrengung. Doch die Yogatrainerin, Patricia Thielemann, bleibt hart.

"So weiter, fünf Stück noch, nicht aufgeben. Es geht weniger um sportliche Aktivität, sondern die Idee dabei ist, durch diese Intensität sich tiefer zu begegnen."

Durchhalten lautet die Parole, denn dadurch werden Muskeln aufgebaut – und in gewisser Weise auch der Geist. Was hier geübt wird, nennt sich Power Vinyasa Flow Yoga. Eine moderne, amerikanische Form des Yoga, die extrem gute Kondition und Beweglichkeit erfordert. Patricia Thielemann kam in Los Angeles zum ersten Mal mit Power Yoga in Kontakt. Ursprünglich wollte die große, blonde Frau mit dem streng zurückgebundenen Haar dort Schauspielerin werden. Stattdessen kehrte sie nach Berlin zurück und gründete ihr eigenes Yoga-Unternehmen. Auch wenn der Name der Schule "Spirit Yoga" danach klingt, Patricia Thielemann geht es nicht darum, spirituelle Erfahrungen zu vermitteln.

"Spirit bezieht sich in diesem Falle mehr auf Lebensenergie und auf das Wesentliche. Und nicht, wie es auch manchmal in der Yogatradition vorkommt, dass Antworten gegeben werden, sondern es ist eher ein Rahmen zu schaffen, ein Raum zu geben, in dem die Frage in den Raum gestellt wird. Und der Schüler kann für sich die Antworten finden."

Den meisten Schülern geht es jedoch vor allem darum, sich und ihrem Körper etwas Gutes zu tun:
"Ich habe mich entschieden Yoga zu machen, weil ich einen relativ stressigen Beruf habe und so präventiv mache ich es, um einen Ausgleich zu haben."

"Mich einfach so ein bisschen sportlich zu betätigen ohne die große Anstrengung zu haben."

"Um zu entspannen, um so richtig den Kopf frei zu kriegen."

"Ich bin noch ganz neu und erhoffe mir so ein bisschen sowohl physische als auch psychische Entspannung. Der Weg zur inneren Ruhe, zur inneren Mitte, zur Ausgeglichenheit ist das, was mir in ganz weiter Ferne vorschwebt."

Und dann gibt es noch diejenigen, die tiefer einsteigen wollen in die Materie und sich für eine Ausbildung zum Yogalehrer entscheiden. Was treibt sie an? Diese Frage stellte sich auch die Regisseurin Irene Graef und drehte einen Dokumentarfilm mit dem Titel: "Im Kopfstand zum Glück". Zwei Jahre lang hat sie dafür mit der Kamera in Berlin angehende Yoga-Lehrer begleitet. Es sind vor allem Kulturschaffende zwischen 30 und 40, die sich mit der Yoga-Lehrer-Ausbildung ein zweites Standbein schaffen wollen. Die Dokumentarfilmerin erklärt sich den Yoga-Boom folgendermaßen:

"Ich glaube schon, dass Yoga Leute anzieht, die immer auf der Suche sind, sich verändern wollen. Und da ist Berlin voll von solchen Menschen, es hat auch was mit dieser Stadt zu tun. Weil sich in Berlin sowieso alles ändert, jeder zwischen drei und vier Berufen steht und man da dann auch diese Leute sehr stark findet, wenn man in so einer Stadt dreht."

Aber Yoga zieht nicht nur Menschen in Großstädten wie Berlin an. Mehr als fünf Millionen Deutsche üben regelmäßig Yoga, schätzt der Berufsverband der Yogalehrenden in Deutschland. Etwa 20.000 Yogalehrer soll es in Deutschland geben. Ein riesiger Markt ist entstanden.

Schon in den 70er-Jahren gab es eine erste Welle der Yogabegeisterung. Doch seit etwa Mitte der 90er hat die Popularität und das Spektrum an verschiedenen Yoga-Formen extrem zugenommen, beobachtet Beatrix Hauser. Sie ist Ethnologie-Professorin und forscht an der Universität Halle über Yoga als transkulturelles Phänomen. Warum Yoga derzeit so boomt, erklärt sie mit sozialen Faktoren:

"Das eine sind die veränderten Arbeitsbedingungen. Wir haben im Moment eine erhebliche Konkurrenz auf dem Arbeitsmarkt, die dazu führt, dass die Privatsphäre immer stärker verschmilzt mit Zeiten, an denen man potenziell arbeiten muss. Und dazu gehört ein enormes Maß an Stress, das entsteht durch die Selbstverantwortlichkeit in vielen beruflichen Bereichen."

Zudem müssten heutzutage viel mehr Informationen verarbeitet werden – dadurch entstehe ein enormer Bedarf nach mentaler Regeneration. In dieser Hinsicht wirke Yoga therapeutisch, glaubt Beatrix Hauser. Ein anderer Punkt sei, dass der Körper heute als eine Art Visitenkarte der Persönlichkeit bewertet wird. Er muss vorzeigbar sein.

"Früher hieß es: Kleider machen Leute. Heute ist es sehr häufig, dass die Kleider nicht genügen. Sondern, dass die Figur als Indikator dafür gilt, wie jemand persönlich gestrickt ist, ob sich jemand gehen lässt. Welche Haltung jemand mitbringt. Und Körperhaltung, Körperspannung ist etwas, was sie mit Yoga extrem fördern können."

Auch, dass Yoga mittlerweile Teil eines bestimmten Lifestyles ist, habe dazu beigetragen, dass so viele Menschen Yoga praktizieren. Und als letzten Punkt nennt Beatrix Hauser eine veränderte Heilserwartung:

"Yogapraktizierende heute, denen geht es nicht in erster Linie darum, ein näheres Verhältnis zu einer Form von Gott zu entwickeln. Das was ihnen Heil in einem weiten Sinne verschafft, ist die Verankerung in ihrer eigenen Umgebung, ein Verbundensein mit der Welt und dort seinen oder ihren Platz zu haben."

Bei sich ankommen – zur Ruhe kommen - das sollen auch die Yoga-Schüler in Patricia Thielemanns Yoga-Klasse. Nach einer Folge von immer anstrengender werdenden Übungen dürfen die Schüler sich längere Zeit einfach auf die Yogamatte legen und ausruhen. Dann beendet Patricia Thielemann die Yoga-Stunde mit einem kleinen Ritual:

"Führt dann abschließend die Hände vor dem Herz zusammen, das Om zum Ende der Stunde bietet noch mal die Möglichkeit, hier euch dem Größeren anzunähern. Wem das merkwürdig erscheint: Man muss im Yoga an nichts glauben, man lässt es einfach auf sich wirken und ist ganz bei sich. – Om."

Man kann ein Mantra mitsingen und muss dennoch an nichts glauben. Aber wer danach sucht, kann mit der Yoga-Praxis durchaus eigene spirituelle Erfahrungen machen, sagt Yoga-Lehrerin Patricia Thielemann.

"Es ist fast so etwas wie eine kleine oder manchmal auch größere mystische Erfahrung, und weniger sich einem Glauben und Regeln zu verschreiben und sein Leben nach Moral zu leben im herkömmlichen Sinne. Viele Menschen haben den Bezug zu Religion, zur Kirche verloren und trotzdem ist so eine Sehnsucht da, dass wir doch mehr sind als unser täglich Auf und Ab. Und Yoga ist etwas, wo man eben ein Stück für sich erschmecken kann."

In seinem Ursprung war Yoga eine Meditationspraxis in Indien, erläutert Karl Baier. Der Professor am religionswissenschaftlichen Institut der Universität Wien kennt die Geschichte und die religiöse Bedeutung der Yoga-Praxis:

"Es ging um die spirituelle Praxisseite verschiedener Religionen. Verschiedener hinduistischer Religionen, aber Yoga gibt's in dem Sinne auch im Buddhismus und Jainismus und sehr frühester Yoga auch in dem indischen Islam. Und immer geht's drum, dass bestimmte Formen der Übung einen mit der höchsten Wirklichkeit, die in den verschiedenen Religionen verehrt werden, zu verbinden."

Andere Ansätze sehen im Yoga eine Methode. um zum Beispiel, die natürliche Selbsttätigkeit des Körpers zu kontrollieren. Oder als eine Art der Sterbevorbereitung, bei der nach und nach probeweise das Leben eingestellt wird. Forschungsansätze dazu, wie früher Yoga praktiziert wurde, gibt es einige, erklärt Professorin Beatrix Hauser.

Überliefert sind viele Yoga-Übungen schon seit dem zweiten Jahrhundert nach Christus. Doch das, was genau unter Yoga verstanden wird, hat sich über die Jahrhunderte immer wieder gewandelt. Zuletzt massiv im späten 19. und zu Beginn des 20. Jahrhunderts. Damals kam es unter dem Einfluss der Aufklärungsphilosophie und des Christentums zu einer Yoga-Reform in Indien.

"Eine Reformierung in dem Sinn, dass man anfing, die medizinische Wirkung zu untersuchen. Zum Beispiel auch sich mit der Wirkung von Atemtechniken befasste, dass man Yogapositionen ergänzte um dynamische Übungen, die dem Muskelaufbau dienten. Einflüsse in dieser Zeit in Indien gab es zum Beispiel durch die europäischen Gymnastiktraditionen, durch den YMCA, Einflüsse auf das Yoga in den 1920er-Jahren waren auch ganz eindeutig durch das Bodybuilding."

Auch der Austausch mit esoterischen Gruppen aus den USA beeinflusste die Yogapraxis. Diese brachten ihre Philosophie mit ein, erklärt Beatrix Hauser.
Und mit der Zeit entstanden neue Yoga-Übungen, wie zum Beispiel die bekannte Übung "Sonnengruß."

"Alle Formen des Yoga, die wir heute kennen im Westen, sind nicht jahrtausendealte Traditionen, sondern sind Neuerfindungen des Yoga im 19. und 20. Jahrhundert, die von Indien ausgegangen sind, aber in Indien selber schon durch westliche kulturelle Strömungen beeinflusst waren. Was auch den großen Erfolg des Yoga im Westen erklärt, dass das eigentlich schon Mischformen waren, die zu uns gekommen sind aus Indien."

Ortswechsel: Das Sivananda Yogazentrum in Berlin-Schöneberg. Im gelb gestrichenen Meditationsraum des Zentrums sitzen drei ganz in orange und gelb gekleidete Menschen auf den Fußboden vor einen Altar und singen Mantras.

"Das sind ganz alte Mantras – gesungene Texte in Sanskrit, die ganz alte Wissenssprache in Indien, die stammen aus ganz alten Zeiten, tausende von Jahre wurden sie in Indien wiederholt. Das sind Mantras, die wünschen alles Gute und Gesundheit für alle Menschen. Die sind für den Weltfrieden."

Auf dem blumengeschmückten Altar stehen verschiedene hinduistische Gottheiten und auch ein kleines Kreuz aus Plexiglas hat einen Platz gefunden. Es sind positive Ziele für die Meditation, erklärt der gebürtige Franzose Swami Atmaramananda. Der stets lächelnde Mann mit den kurz geschorenen, grau melierten Haaren leitet das Sivananda Zentrum Berlin. Es ist ein Ableger der weltweiten Sivananda Yoga-Organisation, die in den 50er-Jahren durch den indischen Yogameister Sri Vishnu Devananda gegründet wurde.

"Wir sind eigentlich eine monastische Organisation. Die orangetragende Menschen sind Swamis wie in Indien. Wir haben uns dem Yoga-Leben gewidmet. Wir machen nur das. Wir haben uns entschieden, keine Familie zu gründen. Wir haben auch keinen Besitz außer persönliche Sachen und dafür haben wir viel Zeit, andere Leute zu unterstützen, zu unterrichten, zu reisen."

Anders als bei körperbetonten säkularen Yoga-Schulen, steht hinter den Sivananda Yoga-Zentren eine neohinduistische Glaubensgemeinschaft. Doch auch hier muss sich keiner der Yoga-Schüler zu einer Religion bekennen. Jedenfalls solange man nicht als Yogalehrer tiefer in die Organisation einsteigen will.

"Es gibt Leute, die sich für ein yogisches Leben entscheiden und ein normales Leben führen. Das bedeutet, die bringen in ihr Leben Prinzipien, die allgemein yogische Prinzipien sind: Also die Asanas, Körperstellungen, richtige Atmung, Pranayama, die Entspannung, sich vielleicht vegetarisch zu ernähren oder wenigstens gesund ernähren. Und sehr, sehr wichtig: Ein gesundes geistiges Leben zu führen. Das bedeutet eine gewisse Einstellung mit dem Leben, die positiv ist und eine konzentrierte Art zu leben, zu arbeiten, mit allem umzugehen."

Das klingt offen und das kommt Yoga-Interessenten entgegen. Viele von ihnen sind nicht religiös – oder wollen sich zumindest nicht an eine bestimmte Religionsgemeinschaft binden, erklärt der Theologe und Philosoph Karl Baier von der Universität Wien.

"Da gibt's die Einstellung eines spiritueller Wanderers, der in verschiedenen Lebensphasen eben auf verschiedene Angebote dieses Feldes zugreift und dann aber auch wieder etwas anderes ausprobiert. Und sehr viele Besucher von Yogazentren sind auch in anderen Yogaformen gewesen oder immer noch drin und interessieren sich nebenbei auch noch für Psychotherapie, Reiki, Qigong, was auch immer."

Man nimmt sich, was man braucht oder was gerade in Mode ist – so lautet eine weit verbreitete Kritik an der Konsum-Mentalität, die es in der Yoga-Szene auch gibt. Dennoch glaubt Karl Baier nicht, dass der Yoga-Boom nur Ausdruck einer Lifestyle-Welle ist.

"Denn was die Yogaformen anbieten, sind ja Übungssysteme. Und Übungssysteme sind keine Konsumangelegenheit, da muss man sich selber engagieren. Man muss das regelmäßig praktizieren, man muss persönlichen Einsatz aufbringen, um in die Übungen hineinzuwachsen."

Yoga erfordert Disziplin. Und genau das scheint heute viele Menschen anzuziehen. Karl Baier:
"Ich glaube aber, dass das typisch ist für die spirituelle Szene heute, dass sich das Religionsverständnis von weltanschaulichen Orthodoxien hin zu Übungssystemen entwickelt. Das ist nicht sehr geläufig für unser Verständnis, weil wir vom Christentum der letzten paar hundert Jahre her gewohnt sind, dass das zunächst mal eine Lehre ist und dann auch eine Praxis."

Demnach geht es heute vielen Menschen auf der Suche nach der religiösen Dimension im Leben weniger darum, Glaubensüberzeugungen zu finden, als darum, eigene intensive Erfahrungen zu machen. Und das geht mit Übungen, die Körper- und Geist-bezogen sind vielleicht einfacher als mit herkömmlichem Religionsunterricht. Der primäre Grund für die Popularität von Yoga heute liegt aber sicher darin, dass es Menschen in einer säkularen und gestressten Gesellschaft eine Methode bietet, innerlich zur Ruhe zu kommen.