Der Underdog unter den Nominierten hat gewonnen

Moderation: Katrin Heise · 23.02.2009
Bei der Verleihung der Oscars war "Slumdog Millionaire" der große Abräumer und erhielt acht Auszeichnungen, unter anderem als bester Film. Die Filmkritiker Anke Leweke und Jörg Taszman freut diese Entscheidung, weil mit diesem Film keiner gerechnet habe. Außerdem habe er eine sehr ansprechende Optik und sei nicht das übliche, was man aus Hollywood kenne. Insgesamt sei die diesjährige Oscar-Nacht viel ansprechender und gelungener als im Vorjahr gewesen, urteilten die Kritiker.
Katrin Heise: In Los Angeles wird wahrscheinlich noch gefeiert, von einigen zumindest. Acht Oscars für "Slumdog Millionaire", das war sozusagen ein Ehren-Regen. Einer, auf den Kate Winslet schon lange gewartet hat, nach fünf Nominierungen hat's beim sechsten Mal für sie mit dem Oscar für die beste Darstellerin geklappt. Und ein Oscar kommt nach Deutschland für den Kurzfilm "Spielzeugland" von Regisseur Alexander Freydank.

(Musik)

Als Filmkritiker braucht man Durchhaltevermögen in einer Nacht wie dieser, in der Oscar-Nacht. Anke Leweke und Jörg Taszman haben dieses Durchhaltevermögen und sehen eigentlich frisch wie eh und je aus. Guten Morgen!

Jörg Taszman: Morgen!

Anke Leweke: Morgen! Das hängt sicherlich auch mit der Musik zusammen.

Heise: Ja, da wird man gleich wieder wach. Ihr wart also live dabei, als es wieder hieß:

"And the Oscar goes to: Slumdog Millionaire…"

Heise: … Aber was heißt live dabei, live am Fernseher zuhause waren Sie dabei. And the winner is "Slumdog Millionaire", acht Oscars, unglaublich abgeräumt, würde ich mal sagen, und Anke Leweke, Jörg Taszman, sind Sie zufrieden?

Anke Leweke: Ich kann sagen, dass mich das sehr gefreut hat, vor allen Dingen habe ich noch nie eine Oscar-Bühne so voll gesehen. Da waren ja die ganzen Schauspieler auch aus Indien angereist, auch die Kinderdarsteller, das war wirklich ein schönes Bild. Und das hat mich auch für den Film gefreut, weil ja quasi der Underdog unter den Nominierten gewonnen hat.

Mit diesem Film hat ja keiner gerechnet. Der hatte gar keinen Verleih lange Zeit, dann lief er in Toronto, wurde da entdeckt und hat dann auch richtig Kinokasse gemacht. Und ich finde, er erzählt ja auch von einem Underdog. Es geht um einen Jungen aus dem Slum, der dann bei dieser Show mitmacht, "Wer wird Millionär?".

Und ich muss sagen, das ist so ein Film, das ist so richtig Hollywood trifft auf Bollywood, Herzschmerz, aber das macht der Film auch so gebrochen. Also er nimmt einen da richtig mit, hat aber gleichzeitig die Ironie, ist schnell geschnitten, unheimlich hip, schöner Musikeinsatz. Und gleichzeitig habe ich immer das Gefühl, dieser Film beutet eigentlich den Slum nicht aus, sondern ganz beiläufig erzählt er uns eigentlich doch noch eine Menge aus dem Leben von Kindern, die dort groß werden.

Heise: Würden Sie dem zustimmen, Herr Taszman?

Jörg Taszman: Absolut, und das ist eben ein Film, der wird immer nur als Märchen bezeichnet. Das klingt so ein bisschen verniedlichend. Da gibt es durchaus harte Szenen, der Film hat durchaus sehr tragische Momente, aber er schwelgt jetzt nicht in dieser Tragik, sondern er hat eine ganz breite Palette an Emotionen und an Gefühlen und ist auch vom Optischen her - zum Beispiel einer der vielen Oscars, den ich sehr verdient fand bei dem Film, war für die beste Kamera beispielsweise. Er ist auch von der Optik her sehr, sehr ansprechend und auch nicht so das Übliche, was man aus Hollywood kennt.

Insofern ist das wirklich eine sehr angenehme Überraschung, dass sich hier sozusagen eine britische Produktion durchgesetzt hat gegen den großen Favoriten eigentlich, "Benjamin Button", eine sehr gediegene Hollywood-Produktion, die ich auch mag. Aber ich war auch sehr zufrieden mit dieser Entscheidung.

Heise: Dann gehen wir jetzt mal zum besten Darsteller. Der kam aus einem anderen Film, nämlich aus "Milk", Sean Penn.

Sean Penn: "You commie, homo-loving sons of guns. I did not expect this, and I want to be very clear that I know how hard I make it to appreciate me, often. I think that it is a good time for those who voted for the ban against gay marriage to sit and reflect and anticipate their great shame and the shame in their grandchildren's eyes if they continue that way of support. We've got to have equal rights for everyone."

Heise: Sean Penn also bei seiner Rede. Seine Stimme zittert ein bisschen, vor allem, als er diese politischen Inhalte rüberbringt.

Taszman: Er war sehr emotional. Er hat sich wirklich sehr gefreut. Er hat damit, glaube ich, auch wirklich nicht gerechnet. Und er hat am Anfang eben was sehr, sehr Schönes und Sympathisches gesagt. Er hat gesagt, es ist nicht immer leicht, dass man mich anerkennt und dass man mich schätzen kann, weil er wirklich auch als ein schwieriger Schauspieler gilt. Er dankte dann auch seinem Regisseur Gus van Sant, das, glaube ich, ist auch nicht immer optimal gelaufen, da diese Zusammenarbeit.

Aber ich glaube, das ist auch eine schöne Versöhnung für beide, dass sich diese Arbeit dann gelohnt hat. Und dann hat er eben auch ein politisches Statement letztendlich dort gesagt. Er hat gesagt, alle sollen sich schämen, die gerade in Kalifornien gegen dieses Gesetz für die gleichgeschlechtliche Ehe gestimmt haben. Also der Kampf, den damals Harvey Milk geführt hat, der ist eben noch lange nicht vorbei. Und Sean Penn war da sehr engagiert und sehr, sehr bewegend.

Heise: Was würden Sie überhaupt sagen, wie politisch war diese Preisverleihung diese Nacht?

Leweke: Eigentlich wenig politisch, bis auf "Milk", und da hatte ich das Gefühl, da waren alle erleichtert, weil Mickey Rourke galt ja lange Zeit als großer Kandidat. Und das ist ja auch eine Geschichte, die man in Hollywood liebt, jemand, der mal ganz oben war, dann unten gelandet ist und noch mal sein Comeback feiert - das hat man ja gerne.

Aber ich hatte das Gefühl, als es dann hieß, Sean Penn, da sind ja direkt alle aufgestanden, da gab es Standing Ovations. Und er hat sich dann ja auch noch mal während seiner Rede auf Obama bezogen und hat noch mal gesagt, dass es natürlich toll ist, dass wir jetzt endlich, also dass Amerika einen anderen Präsidenten hat. Also da war eine Erleichterung doch richtig zu spüren.

Heise: Erleichterung. Erleichterung bricht sich ja dann oft in großen Emotionen Bahn. Emotionen gab es natürlich heute Nacht auch, nämlich zum Beispiel bei Kate Winslet.

Kate Winslet: "I'd be lying if I hadn't made a version of this speech. Before I was probably eight years old and staring into the bathroom mirror and this would have been a shampoo bottle. Well, it's not a shampoo bottle now. I'm very lucky to have been given Hanna Schmitz by Bernhard Schlink and David Hare, and Stephen, working with you is an experience I will never forget."

Heise: Richtig außer Atem ist Kate Winslet, die sich schon mit acht Jahren auf diese Oscar-Verleihung vorbereitet, wie Sie uns da gerade erzählt, nämlich mittels einer Shampooflasche. Sie hat den Oscar dann entsprechend wie eine Shampooflasche hochgereckt, oder?

Taszman: Sie hat sozusagen es gezeigt, wie sie damals stand, und Oscar war damals die Shampooflasche, genau. Sie hat sich aber eben auch bei Bernhard Schlink bedankt, also durchaus auch bei der deutschen Komponente an diesem Erfolg. Und es war die emotionalste Rede. Und was ich so schön fand an der Rede, war, irgendwann dankte sie ihrem Vater und wusste nicht, wo der sitzt, und sagte nur: Papa, wo auch immer du bist, zeig dich, pfeif mal. Und da gab es einen Pfiff in diesem Auditorium, und der war dann wirklich vom Vater. Also das waren dann so die wirklich sehr angenehmen Momente dieser für mich sehr gelungenen Oscar-Nacht übrigens.

Heise: Hat sie ihn verdient, den Oscar der besten Darstellerin?

Leweke: Ja, also ich bin jetzt nicht so ein großer Fan von "Der Vorleser", und ich kann ja nur sagen, Hollywood und Oscar und die jüngste deutsche Geschichte, das war einfach zu offensichtlich. Und es saß ja auch unten im Publikum Meryl Streep, die jetzt zum 15. Mal als beste Schauspielerin nominiert wurde, dieses mal für "Glaubensfrage". Und ich finde einfach vom Spiel Meryl Streep doch einfach noch überlegen. Also das ist ja fast wie ein Theaterstück gefilmt, "Glaubensfrage", und was sie sich da mit Philip Seymour Hoffman für Rededuelle liefert, das finde ich doch viel konzentrierter als Schauspielkunst. Für mich ist einfach "Der Vorleser" doch sehr konventionelles, klassisches Kostümkino.

Heise: Einverstanden damit, mit dieser Einschätzung?

Taszman: Nein, nicht unbedingt, weil Meryl Streep hat alles bekommen, was man bekommen kann. Meryl Streep, das ist ein Selbstläufer, die wird für jeden Film nominiert. Es ist ein Wunder, dass sie nicht für "Mamma Mia!" nominiert wurde.

Leweke: Vielleicht ist sie einfach die beste Darstellerin der Welt …

Taszman: Und sie ist wirklich eine gute Darstellerin, aber ich finde, es ist auch ein bisschen übertrieben. Man muss nicht jeden Film von Meryl Streep in jedem Jahr für den besten Hauptdarsteller oder für die beste Nebendarstellerin nominieren.

Heise: Jörg Taszman, Anke Leweke, unsere Filmkritiker also nicht immer einer Meinung, was die Oscar-Verleihung angeht. Bei Emotionen, glaube ich, da stach aber dann der beste Nebendarstellerpreis für den besten Nebendarsteller, posthum Heath Ledger hervor.

Leweke: Ja, da haben alle geweint, die Männer und die Frauen im Saal, während die Familie sehr gefasst war. Und ich fand das eigentlich wirklich einen sehr schönen Augenblick, dass dieser Schauspieler, der so jung gestorben ist, noch mal so geehrt wurde. Also das fand ich sehr schön. Und es gab ja da noch einen anderen sehr bewegenden Moment, und zwar als mit Ausschnitten an Paul Newman erinnert wurde. Da war dann ja auch noch mal eine Stille im Saal und so eine Ruhe. Und das finde ich eigentlich immer ganz gut, wenn so eine dreistündige Veranstaltung, oder fast vier Stunden, so ein Wechselbad der Gefühle ist. Also wenn es so die Euphorie gibt, aber dann auch wieder so Platz ist und Raum, wirklich um so mal innezuhalten und auch der Toten einfach zu gedenken.

Taszman: Zumal - und das fand ich auch sehr schön im Vorfeld von dieser Hommage - eben auch gesagt wurde, ja, für uns in Europa oder für uns Kinozuschauer letztendlich sind das eben nur bekannte Gesichter und Stars, aber eben für die Leute da im Raum sind das eben Kollegen und auch Freunde gewesen, mit denen die auch wirklich Zeit verbracht haben. Daher eben auch die Betroffenheit.

Nun hat bestimmt nicht jeder persönlich Heath Ledger gekannt, aber da auch in die Gesichter der Leute zu schauen - zum Beispiel Adrien Brody fiel mir auf -, die ganz ernst waren, auch Angelina Jolie und Brat Pitt, die da wirklich auch Tränen in den Augen hatten dabei. Das war wirklich ein sehr, sehr bewegender Moment, während die Familie dann doch sehr, sehr gefasst war. Das fand ich auch eine sehr schöne Geste an einen sehr, sehr talentierten Schauspieler, der wirklich viel zu früh von uns gegangen ist.

Heise: Kommen wir mal wieder zur Freude zurück, zur großen Freude von Alexander Freydank, der - also kommen wir mal zum deutschen Oscar, zum Kurzfilm "Spielzeugland".

Taszman: Das haben Sie jetzt fast so wunderschön daneben gesagt, wie dieser Oscar als "…" irgendwie vernuschelt wurde. Ich glaube, der wusste gar nicht, dass er gewonnen hatte, obwohl er dann sehr schnell aufsprang. Er hielt auch eine relativ emotionale Dankesrede und sagte eben, er stamme aus Ostdeutschland, und für ihn sei schon Westdeutschland immer so weit entfernt gewesen und Hollywood praktisch eben unerreichbar. Und deshalb sei er eben so froh, da oben auf der Bühne zu stehen. Und das ist natürlich eine Rede, die kommt da in diesem Auditorium in Hollywood sehr gut an.

Leweke: Aber trotzdem ist es wieder ein deutscher Kurzfilm, der uns wieder ins Dritte Reich bringt, wieder eine Geschichte erzählt. Hier geht es um eine Mutter, die mitbekommt, dass die Nachbarn um sie herum verschwinden. Sie erzählt ihrem Sohn eben immer, die fahren nur ins Spielzeugland, also sie verharmlost das. Und der Sohn will dann auf einmal mit ins Spielzeugland, und dann kommt so eine kleine Krimihandlung da mit rein. Und der Film ist wirklich sehr klassisch, sehr konventionell gemacht.

Und ich habe immer das Gefühl, da komme ich wieder beim "Vorleser", dass es alles in diesem Kostüm auch erstickt, also dass diese Filme eigentlich gar keine Gegenwärtigkeit mehr haben, dass man immer eigentlich schon weiß, wie die Geschichte enden wird und dass die Filme keine Form finden, einfach noch mal sozusagen von vorne das ganze Unfassbare zu erzählen.

Heise: Ein anderer hat versucht, etwas Unfassbares zu erzählen, "Der Baader Meinhof Komplex", eine deutsche Oscar-Hoffnung, ist aber leer ausgegangen.

Taszman: Das war ein bisschen vorauszusehen. Also ich konnte mir nicht vorstellen, dass man in Amerika einen Film, der mit Terrorismus zu tun hat - ganz egal, wie er den jetzt abhandelt, darauf wollen wir jetzt gar nicht eingehen -, aber dass der Film dann letztendlich einen Oscar bekommt, das wäre eine Außenseiternummer geworden.

Österreich konnte es nicht werden mit "Revanche", weil die haben schon im vorigen Jahr einen bekommen. Und so nach diesem Ausschlussprinzip wurde dann ein japanischer Film, weil "Waltz with Bashir", der wahrscheinlich der beste Film ist und der es auch am meisten verdient hätte, durch seine Israel-kritische Haltung oder zumindest, indem er die Ereignisse dieser Massaker damals, die sich im Libanon ereignet haben, doch sehr kritisch beäugt. Das war dann für diese alten Männer, die letztendlich diesen Auslands-Oscar vergeben, das war nicht hoffähig. Dazu hätte dieser Film mehr pro-israelisch sein müssen.

Weil dieser Auslands-Oscar nämlich eine ganz komische Geschichte ist. Das ist ein ganz kleines Komitee und Gremium, das den vergibt. Das sind ja nicht alle Tausende da im Saal, die Mitglieder der Akademie sind, die darüber entscheiden.

Heise: Sie waren auch sehr unzufrieden, Anke Leweke?

Leweke: Ja, es hat mich sehr enttäuscht, dass "Waltz with Bashir", der ja schon in Cannes und bei den europäischen Filmpreisen leer ausgegangen ist, dann auch in Hollywood nichts bekommt. Und das wäre ja auch ein Oscar für Deutschland gewesen, ist ja auch viel deutsches Geld mit drin, deutsche Koproduzenten, also hätte ich schön gefunden.

Heise: Aber insgesamt heute Nacht, also der Jahrgang 2008 ist ja bewertet worden, insgesamt eine Zufriedenheit?

Taszman: Ich muss sagen, ich bin sehr zufrieden, ich bin sehr viel zufriedener als im Vorjahr. Ich hatte mit allen Filmen vorher große Probleme, ich fand die alle zu kalt, zu düster, zu unsinnlich. Und da war für mich einfach, das waren einfach schönere Filme. Deswegen bin ich sehr froh. Ein kleiner Wermutstropfen ist da immer. Also "Wall.E" zum Beispiel, der erstaunlicherweise für fünf Oscars nominiert war, hat dann leider nur einen einzigen bekommen. Zum Beispiel war er auch für das Drehbuch nominiert, was ich toll fand bei dem Film. Aber gut, das sind so Kleinigkeiten, das war trotzdem, ich bin sehr zufrieden mit diesen Entscheidungen.

Heise: Abschlusswort für Anke Leweke!

Leweke: War eine schöne Veranstaltung. Im Vorfeld hieß es ja, wir müssen sparen, und gleichzeitig sind ja überall die Einschaltquoten im Fernsehen einfach gesunken, deshalb hat man den Show Act vergrößert. Und trotz der Krise kann man nur sagen, Hollywood lässt die Devise weiterleben: The show must go on!

Heise: Vielen Dank, Anke Leweke, Jörg Taszman, für diese erste filmische Einschätzung der Oscar-Verleihung. Wir gehen gleich weiter zur musikalischen Einschätzung, Matthias Wegener, Sie haben nämlich den Musik-Oscar.

Matthias Wegener: Ja, David hat Goliath geschlagen, der große Sieger bei den Oscars, auch auf musikalischer Seite heißt "Slumdog Millionär". Komponist der Filmmusik und der Songs ist A. R. Rahman, einer der Großen im Bollywood-Filmgeschäft. Seine Musik zu diesem Bollywood-Märchen hat bereits den Golden Globe bekommen, und heute Nacht gab es noch zwei Oscars, für die beste Filmmusik und für das beste Lied.
Kate Winslet
Kate Winslet freut sich über ihren Oscar als beste Darstellerin.© AP
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