Der Trieb fordert Opfer

Einmal im Jahr brennt es - das ist der Fluch der Grafen Irrelohe
Einmal im Jahr brennt es - das ist der Fluch der Grafen Irrelohe © Thilo Beu / Theater Bonn
Von Stefan Keim · 07.11.2010
Mehr als ein Geheimtipp ist diese 1924 in Köln uraufgeführte Oper, die mit unverschämt sinnlicher Musik vom Erbfluch eines Grafengeschlechts erzählt. Der Aufwand ist riesig, einer Wagner-Oper vergleichbar. In Bonn wurde "Irrelohe" erfolgreich in Szene gesetzt.
Graf Heinrichs Blut brodelt. Frau! Kein anderer Gedanke dringt mehr in sein Hirn, der Trieb übernimmt die Kontrolle. Er stürzt sich auf die junge Eva. Doch im letzten Moment zuckt er zurück. Er will sich beherrschen, dem "wilden Tier" in sich nicht die Kontrolle überlassen. Heinrich kämpft mit einem Erbfluch. Ein Vorfahre aus dem Grafengeschlecht der Irrelohes hatte mal ein Verhältnis mit einer Nixe. Daraus entstand ein Kind, das in einem Feuer umkam. Seitdem brennt es jedes Mal in der Gegend, wenn sich dieser Tag jährt. Und Heinrich fühlt wie alle Irrelohe-Männer das unendliche Verlangen nach Sexualität.

Als Franz Schreker seine Schaueroper "Irrelohe" schrieb, war Sigmund Freuds Psychoanalyse noch ganz neu. Sie revolutionierte das Menschenbild, Künstler aller Sparten reagierten darauf. Schreker zeigt zerrissene Seelen, verloren in Träumen und Traumata. Die Schankwirtin Lola wurde von einem Irrelohe, dem Vater Graf Heinrichs, vergewaltigt. Das besingt sie gleich zu Beginn der 1924 in Köln uraufgeführten Oper in einem selbstquälerischen, ins Dissonante gleitenden Walzer. Ihr Sohn Peter ist der uneheliche Sohn des Grafen, auch in ihm steckt der Fluch. Peter und sein Halbbruder Heinrich lieben dieselbe Frau. Es kommt zum Zweikampf, während als Musiker getarnte Brandstifter das Schloss anzünden.

Schreker hat eine unverschämt sinnliche, vor keinem prallen Theatereffekt zurück schreckende Musik geschrieben. Er nähert sich hier deutlicher der Moderne als in seinen häufiger zu hörenden Opern "Der ferne Klang" oder "Der Schatzgräber", mischt viele Reibungen in den spätromantisch-opulenten Klang, zeigt Brüche und Entsetzen durch atonale Einschübe. Stefan Blunier wirft sich am Pult des unter seiner Leitung aufgeblühten, wieder einmal exzellenten Beethoven-Orchesters in die wilden Triebe, die Schreker musikalisch nachempfindet. Aber Blunier nimmt sich auch zurück, entwickelt Momente kammermusikalischer Raffinesse, zeigt, was für eine Vielfalt in dieser Oper steckt. Oft erinnert sie in ihrer erzählerischen Dramatik an Kino-Soundtracks der 30er- und 40er-Jahre. Im Gegensatz zu Wagner und seiner Leitmotivtechnik komponiert Schreker situativ, packend, direkt, ohne zu kommentieren oder in die Zukunft zu schauen. Die Sänger haben oft Mühe, sich gegen das wie das blaue Blut der Irrelohes brodelnde Orchester durchzusetzen. Doch für die Verständlichkeit helfen die Übertitel.

Wagnerstimmen sind gefragt, um diese Oper auf die Bühne zu bringen, Sänger, die große Kraft und Kondition mit der Fähigkeit zu lyrischen Zwischentönen verbinden. Ingeborg Greiner gelingt als Eva das faszinierende Porträt einer Frau, die keinesfalls nur passives Opfer einer wahnsinnig gewordenen Männerwelt ist. Sie reizt die beiden in sie verliebten Brüder, will von beiden begehrt werden, spielt mit dem Feuer und weiß, wie gefährlich das ist. Kostümbildner Fred Fenner steckt die Sopranistin in einen extrem knappen Pulli und betont ihre üppigen Kurven, die heterosexuell orientierte Männer im Publikum das Leid der Irrelohes nachempfinden lassen. Mit wunderschön leidendem Edelbariton verkörpert Mark Morouse den unehelichen Peter als aus Hilflosigkeit brutalen Außenseiter, in dem viel von Woyzeck und Liliom steckt. Etwas übertrieben agiert Roman Sadnik als Graf Heinrich. Laut Libretto ist dieser Irrelohe ein Intellektueller, der in der Weltabgewandtheit Erlösung sucht. Auf der Bühne wirkt er wie ein durchgeknallter Jungunternehmer, der einem Sportwagen ähnlich viel erotische Aufmerksamkeit schenkt wie Eva.

Regisseur Klaus Weise inszeniert nur wenige ironische Brechungen. Er verlegt die Handlung nach Osteuropa, in ein Dorf, in dem die Zeit stehen geblieben zu sein scheint. Alte, graue Lkws stehen herum, in Lolas Schenke sitzen Schlachter mit blutigen Schürzen. Am Ende werden sie das Hochzeitspaar zwingen, in ein neues Leben aufzubrechen, rätselhafte Gestalten, Geister vielleicht, anscheinend die eigentlichen Machthaber in der sonst völlig passiven Dorfgesellschaft. In der Mitte des ersten Aktes gelingt Bühnenbildner Martin Kukulies ein überwältigender Coup. Bisher hat man nur die Schenke und die Laster gesehen, dann ziehen die schwarzen Vorhänge auf und enthüllen das finstere, gewaltige Schloss, das bis zur Decke reicht. Die ganze Zeit war es unsichtbar im Hintergrund, niemand kann sich ihm entziehen. Klaus Weise schafft zwingende, gruselige Atmosphären, der Bonner Generalintendant ist auch Filmemacher und Kinofan, mit einem großen Lust am Erzählen von Geschichten.

Zu einem Dauergast auf den Musiktheaterspielplänen wird die "Irrelohe" trotz dieser gelungen Aufführung nicht werden. Der Aufwand ist riesig, vergleichbar einer Wagner-Oper, Titel und Komponist wenig bekannt. Aber sie ist auch mehr als ein Geheimtipp. Es gibt nicht so viele Werke, die eine straffe, spannende Handlung, überzeugend gebrochene Charaktere und eine überwältigende, aufreizende und zugleich feingliedrige Musik verbinden. In Franz Schrekers späterem Schaffen gibt es übrigens noch einige Stücke zu entdecken.

Informationen der Deutschen Oper Bonn zu "Irrelohe"