Der Traum vom besseren Leben

Von Reinhard Spiegelhauer · 07.05.2013
Zu Zigtausenden kamen vor wenigen Jahren Bootsflüchtlinge über die Meerenge nach Andalusien oder kletterten über die Grenzzäune der spanischen Exklaven Ceuta und Melilla. Weil es beim Massenansturm auch Tote gab, ist massiv aufgerüstet worden.
Benzindämpfe hängen in der Luft, tuckernde Diesel pusten Rußwolken aus dem Auspuff: in drei Reihen stehen verschlissene Limousinen, verbeulte Kleinwagen und rostige Lieferwagen in der Schlange. Um mit dem Auto von Marokko nach Melilla zu kommen, braucht man Geduld. Fünf- bis sechstausend Autos pro Tag fertigen die Grenzer ab. Und die Kontrollen sind gründlich. An einem Kleintransporter bringen Beamte per Magnet mehrere tellerartige Gebilde an:

"Alle müssen aussteigen, und mit diesem computergestützten System könnten wir erkennen, ob jemand im Auto versteckt ist. Wir würden seinen Herzschlag hören, und eine genauere Kontrolle durchführen."

Beamte hätten schon hinter dem Armaturenbrett versteckte Menschen regelrecht ausbauen müssen, sagt Leutnant Martín Rivera. Manchmal seien Passagiere auch dort untergebracht, wo sonst der Benzintank ist - der Motor bekommt den Sprit dann aus einer kleinen Flasche, in der gerade genug Benzin ist, um in der Warteschlange durchzuhalten. In Autos versuchen vor allem marokkanisch-stämmige Einwohner Melillas, Freunde oder Verwandte einzuschleusen. Anderen Flüchtlingen bleibt nur der direkte Weg: über den Monsterzaun.

Im Geländewagen der Guardia Civil geht es zum sechs Meter hohen und zehn Kilometer langen Grenzzaun zwischen Marokko und Spanien. Er zieht eine weithin sichtbare Schneise zwischen Afrika und Europa:

"Wir kommen jetzt zum Grenzpunkt 18, da können wir Ihnen einige Besonderheiten dieses Zaunes erklären."

Es sind eigentlich drei Zäune in einem: Der äußere ist 15 Grad Richtung Marokko geneigt, um das Darüberklettern zu erschweren, außerdem kann der obere Teil nach außen geschwenkt werden. Wenn es jemandem gelingt, den zu überwinden, kommt ein zweiter Zaun, ein Drahtgeflecht erschwert es, an diesen Zaun zu gelangen. Die Zeit, die er benötigt, um zum dritten Zaun, der zu Spanien gehört, vorzudringen, gibt uns Spielraum, durch spezielle Türen in den Zwischenraum zu gelangen und einzugreifen, bevor Eindringlinge spanischen Boden erreichen.

2005, als an der Grenze noch ein einfacher Zaun stand, stürmten nächtelang jeweils hunderte von Flüchtlingen aus Schwarzafrika die Grenze. Mit improvisierten Leitern und mit dem Schwung der puren Masse gelang es vielen, die Grenze zu überrennen. Andere wurden fest genommen, verprügelt, nach Marokko abgeschoben - auch Schüsse fielen. Mehr als ein Dutzend Menschen starben unter bis heute nicht vollständig geklärten Umständen. So etwas kann sich nicht wiederholen, versichert Leutnant Martín Rivera:

""Die Kontrolle der Flüchtlingsströme durch Marokko ist fundamental dafür, dass sich Vorfälle wie die von 2005 nicht wiederholen. Die Kontrolle auf der Außenseite."

Doch trotz mehrerem zig Millionen Euro teurem Schutzwall, und trotz Zusammenarbeit mit den marokkanischen Behörden: Der Abschreckungsfaktor des Zauns ist niedrig. Praktisch täglich versuchen Flüchtlinge über den Zaun zu kommen, immer wieder auch in größeren Gruppen. Zumindest ein paar von uns werden durchkommen, so hoffen sie…

Wer es über den sechs Meter hohen, dreireihigen Absperrwall hinein nach Melilla geschafft hat, der hat zwar Afrika hinter sich gelassen - doch nach Europa geschafft hat er es damit noch nicht. Die beiden spanischen Exklaven Ceuta und Melilla, sie sind für die Flüchtlinge fast so etwas wie Niemandsland. Grenzschützer Martín Rivera jedenfalls sieht es so:
"Ich kann da nur aus persönlicher Anschauung sprechen, nicht als Angehöriger der Guardia Civil. Ohne Zweifel ist es ein entscheidender Schritt für die Immigranten, nach Melilla zu gelangen. Aber sie wollen nicht hier bleiben, sie wollen ein erfülltes Leben führen - arbeiten, eine Familie gründen. In einer Grenzstadt wie Melilla geht das bedauerlicherweise nicht - das ist für sie eine Zwischenstation."

Eine Station, in der Flüchtlinge oft mehr Zeit absitzen, als sie sich vorgestellt haben. Frisch angekommene feiern, dass sie es über den Zaun geschafft haben. Sie schmieden Pläne, so wie Mohamed Abdi aus Somalia, der am Stadtrand vor dem Auffanglager zwischen Brachen, Flughafen und Golfplatz gelegen - und mit Blick auf den zehn Kilometer langen Grenzzaun. Für diejenigen, die ihn überwunden haben und registriert sind, gibt es drei geregelte Wege, um tatsächlich aufs europäische Festland zu kommen, erklärt José Palazon von der Menschenrechtsorganisation PRODEIN:

"Eine Möglichkeit ist, mit einem Passierschein: Die Polizei, das Innenministerium erlaubt dem Migranten, mit der Fähre nach Malaga oder Almeria überzusetzen - wenn er versichert, von dort in sein Heimatland zurückzukehren. Was der aber logischerweise nicht tut, wenn er in Almeria angekommen ist."

Ein zweiter Weg führt über Internierungslager in Spanien. Nach spanischer Gesetzeslage können sie dort bis zu 60 Tage festgehalten werden - gelingt es in dieser Zeit nicht, ihre Herkunft zu klären und sie gegebenenfalls in ihre Heimat zurück zu führen, werden die Migranten aus dem Lager entlassen. Die dritte Möglichkeit, Melilla legal in Richtung europäisches Festland zu verlassen, ist eher ein Spezialfall: Nur in wenigen Härtefällen erteilt die spanische Regierung echte Aufenthaltsgenehmigungen - aus humanitären Gründen. Eine vierte Möglichkeit wäre theoretisch, politisches Asyl zu beantragen – doch in der Praxis spiele sie keine Rolle, sagt José Palazon:

"Hier in Melilla ist ein Asylantrag praktisch die Garantie, zwei Jahre festzusitzen. So lange wird der Antrag geprüft - und dann wird er abgelehnt, praktisch keinem Antrag wird statt gegeben. Es gab einen Albino aus Uganda, dem wir geraten haben, Asyl zu beantragen, denn die Verfolgung und Ermordung von Albinos in Afrika ist eigentlich ein klarer Fall für Asyl. Aber nach zwei Jahren war sein Status noch immer nicht geklärt. Im September hat er sich unter einem Lkw versteckt und Melilla verlassen - er ist jetzt in der Schweiz. Eine Woche später kam dann zwar der positive Bescheid, aber... und es war, glaube ich, der einzige im ganzen Jahr 2012."

Trotzdem bleibt Melilla weiter wichtiges Zwischenziel für viele Flüchtlinge. Der unüberwindbar scheinende Zaun, der stetig nachgerüstet, weiter entwickelt wird, ist ein geradezu magischer Anziehungspunkt geworden. Wer es über ihn geschafft hat, schickt die Erfolgsnachricht in die Heimat und wird dort gefeiert. Und neue Flüchtlinge fühlen sich ermutigt, machen sich auf den Weg. Dass der Zaun nicht überrollt wird, dafür sorgen in erster Linie die Sicherheitskräfte in Marokko - und das nordafrikanische Land, es sei sich seiner Macht wohl bewusst, sagt Palazon:

"Marokko erpresst die Europäische Union. Wenn Marokko es will, kommt niemand über den Zaun. Da stoppen sie auch eine Welle von 500 Immigranten. Aber zwei Tage später schaffen es plötzlich 100 Flüchtlinge über den Zaun. Weil keine marokkanischen Grenzer da sind. Marokko haut mit der Faust auf den Tisch: 'na, wer kontrolliert hier die Grenze?' versteht du? Es macht sich unverzichtbar - und so bekommt das Land Geld und was es sonst verlangt. Marokko hat diese Basar-Feilscherei gut drauf."

Was in Ceuta und Melilla – mit marokkanischer Unterstützung - rostfreier Stahl erledigen soll, übernehmen an der Meerenge von Gibraltar Radarstrahlen, Infrarotkameras und Küstenwache. Das Kontrollzentrum dieses "elektronischen Grenzzauns" steht in der Hafenstadt Algeciras. Der Kampf der Guardia Civil gelte, erklärt Hauptmann Manuel Oviedo an der Eingangstür zur Kommandozentrale, vor allem dem Drogen- und Menschenschmuggel:

"Hier haben wir die verschiedenen Bildschirme, hier zum Beispiel vom Radar. Was auch immer sich über die Meerenge bewegt, wird beobachtet. Sportboote, Fischerkähne, Handelsschiffe - alles."

Mit einer Art Joystick können die Männer hier in der Kommandozentrale auch zahlreiche Kameras ausrichten, die mit mächtigen Zoomobjektiven auf die Meerenge hinausschauen. Mit einem Ziehen am Joystick werden Ausschnitte vergrößert, per Tastendruck von sichtbarem Licht auf Infrarot umgeschaltet. Wärmebilder zeigen so, ob ein Boot motorisiert ist, manchmal auch, wie viele Menschen an Bord sind. Der Kontrollraum ist vollgestopft mit Kontrollmonitoren, die Kamerabilder, Kartenausschnitte und Datentabellen zeigen. Das Werkzeug, das am weitesten reicht, ist das Radar:

"Wir decken die ganze andalusische Küste ab, die von Ceuta und von Melilla. Je nach Wetter, es ist eben ein Radar, sehen wir weit über unsere Gewässer hinaus. Hier an der Meerenge ist die Entfernung gering, so dass das Radar so weit reicht. Oft zeigt es Boote schon an, wenn sie die marokkanische Küste verlassen."

Die Besatzung an den Steuerpulten haben Erfahrung. Je nach Größe des Radarschattens, Geschwindigkeit und Richtung können sie mit großer Wahrscheinlichkeit fest stellen, ob es sich zum Beispiel um ein Schnellboot von Drogenschmugglern handelt, oder den Kahn eines Schleppers, der Bootsflüchtlinge nach Spanien bringen will. Abhängig davon werden dann Schiffe der Küstenwache, manchmal auch Hubschrauber und Einheiten am Boden in Marsch gesetzt. Drogenschmuggler werden im Idealfall verhaftet, Flüchtlinge vor noch erreichen spanischer Gewässer abgefangen und zurück geschickt. SIVE heißt dieses Überwachungssystem in Spanien - zu Deutsch: Integrale Überwachung und Sicherung der Außengrenzen.

Der elektronische Grenzzaun an der Meerenge von Gibraltar ist so effektiv, dass es die Migration von Marokko nach Spanien extrem verändert hat. Aus eigener Anschauung weiß das Ivan Lima vom Roten Kreuz in Tarifa. Das kleine Städtchen am südlichsten Zipfel des europäischen Festlandes ist vor bei Wind- und Kitesurfern berühmt, weil fast stetig starker Wind weht. Im kleinen Hafen der Stadt werden aber auch immer wieder Bootsflüchtlinge an Land gebracht, die auf hoher See gerettet worden sind.

"Die Boote früher waren groß und aus Holz, mit um die 100 Menschen an Bord. Jetzt, wo das Überwachungssystem installiert ist, werden so große Boote schnell entdeckt. Deswegen kommen sie jetzt oft in Gummibooten, wie sie die Kinder am Strand haben. Eineinhalb bis zwei Meter lang, dabei mit sieben oder acht Leuten an Bord. Das ist inzwischen das Übliche. Manchmal kommen auch größere, Zodiacs, mit 30 Leuten an Bord. Aber meistens sind es kleinere."

Ein Stück entfernt liegt der Rettungskreuzer Alkaid der spanischen Seenotrettung. Eigentlich war für den Morgen eine Übung angesetzt, doch dann kam es anders, erzählt Kapitän Juan Carlos Dujat auf der Brücke des Schiffes:

"Heute haben sich die Pläne geändert. Am Morgen sind wir wegen eines Flüchtlingsbootes alarmiert worden. Wir sind ausgelaufen, um sie zu suchen, aber nicht gefunden. Es scheint aber bestätigt, dass die marokkanische Küstenwache die Leute aufgenommen hat."

Die Alkaid ist gut 20 Meter lang, komplett leuchtorange gestrichen. Zwei Jet-Antriebe mit knapp 3000 PS bringen das Aluminiumschiff auf 35 Knoten, um die 65 Stundenkilometer. Die Brücke wirkt fast wie ein Flugzeugcockpit. Und trotzdem ist es nicht leicht, die kleinen Gummiboote zu orten, die durch die Maschen des elektronischen Grenzzauns geschlüpft sind:

"Es gibt keine konkrete Zone, wo man suchen muss. Es kommt darauf an, von wo sie starten, wie die Strömungen und der Wind sind, ob das Boot einen Motor hat oder nicht. Es hängt von vielen Faktoren ab, man kann es nicht vorhersagen. Oft rufen sie uns an, ohne zu wissen, wo sie sind - dann müssen wir den Hubschrauber und alle Möglichkeiten einsetzen, um die Leute zu suchen. Aber es gibt keine 'übliche' Gegend."

Es sind tatsächlich oft die Migranten selbst, die per Handy beim spanischen Roten Kreuz, bei der Seenotrettung oder einfach der 112 anrufen, und um Hilfe bitten. Denn die Küstenwache dirigiert zumindest seetüchtige Boote zurück Richtung Marokko und übergibt sie gegebenenfalls der dortigen Küstenwache - die zivilen Organisationen dagegen bringen die Flüchtlinge zumeist aufs spanische Festland, auch wenn dort die Guardia Civil schon bereit steht.

"Unsere Arbeit ist in erster Linie, die Leute von den Booten zu holen, denn es ist einfach gefährlich, so viele Leute in einem kleinen Boot. Wir holen sie an Bord, oft sind sie unterkühlt und wir geben ihnen Decken und Wasser. Danach bringen wir sie in einen sicheren Hafen, wo sie dann vom Roten Kreuz trockene Kleidung bekommen. Und dann versucht die Gaurdia Civil, die Personalien fest zu stellen."

Ivan Lima vom Roten Kreuz hat auch immer Erstversorgungskits in seinem Pickup - denn trotz SIVE schaffen es noch immer Flüchtlingsboote auch an der Küste - mit verängstigten, nassen, unterkühlten Menschen an Bord:

"Das hier sind Kartons mit warmer Kleidung, mit Schuhen, Unterwäsche, Hemden. Jeder bekommt eine Tüte und noch einen Stoffbeutel, in dem er seine eigenen Sachen verstauen kann..."

Er ist stolz darauf, dass er den Menschen helfen kann, auch wenn eigentlich ganz andere Hilfe nötig wäre - zumindest findet er das:

"Wenn man ihre Situation zuhause verbessern könnte, müssten sie nicht emigrieren. Jeder, der unter schlechten Bedingungen lebt, wird versuchen, das zu ändern. Deswegen werden sie weiter versuchen, über die Meerenge zu kommen."