Der Tanzanarchist

Von Gerd Brendel · 09.08.2012
Für grazile Anmut und schwerelose Akrobatik hat der portugiesische Choreograf und Tänzer Gui Garrido nicht viel übrig. In seinen Performances will er träge Körperfülle nicht verleugnen, sondern ausstellen - und liefert er sich mit anderen Darstellern schon mal Boxkämpfe.
Tanz im August vor drei Jahren in Berlin-Kreuzberg: Zwei Männer gehen sich an die Wäsche, reißen sich die Trägerhemden vom Leib, traktieren sich mit Faustschlägen, ziehen sich an Bart und Haaren, um sich im nächsten Augenblick zu einem Knäuel zu verschlingen. Ein Duett zwischen Vorspiel und Schlägerei, zwischen Striptease und Ringkampf. "Still standing" nannten der Belgier Pieter Ampe und der Portugiese Gui Garrido ihre gemeinsame Performance.

Der Schwerkraft trotzen, die träge Körperfülle nicht verleugnen, sondern ausstellen, das ist der rote Faden, der alle Arbeiten des Tänzers und Choreografen Gui Garrido durchzieht. Perfektion, tänzerische Anmut wie beim klassischen Ballett oder schwerelose Akrobatik ist seine Sache nicht:

"Ich finde es anmutiger zu sehen, wie jemand etwas mit aller Kraft versucht. Das perfekte Ergebnis wie in einem wunderschönen Ballett oder beim Cirque du Soleil interessiert mich nicht."

Sonnenbrille, Fünftagebart, große Ohrringe, breite Sportlerbrust: Beim Vortanzen für eine klassische Ballettkompanie hätte Gui Garrido keine Chance, eher noch beim Vorsprechen als Statist für "Pirates of the Caribbean".

Der angeblich queere Macho präsentiert sein breitestes Latin Lover-Grinsen:

"Mein Blut kocht und beim flirten spiele ich den Macho wie ein alter Pfau oder krähe wie ein Hahn."

Dass, was der Macho Garrido seine "queere" Seite nennt, lebt er in seiner Beziehung mit seiner Freundin, die er vor drei Jahren beim Standardtanzen kennengelernt hat:

"Meine Freundin ist diejenige, die Fußball, Autos und Computer mag. Ich bin der Typ, der gern kocht und es mag, wenn die Bettbezüge die gleiche Farbe wie die Handtücher haben."

Der Macho Garrido lebt auf der Bühne. Zum Tanz fand Gui Garrido über Umwege:

"Eigentlich komme ich vom Sport. Auf dem College studierte ich dann erst Fotografie und Bildhauerei, aber davon habe ich keine Ahnung und so beschloss ich, mehr über den Körper herauszufinden und Tanzunterricht zu nehmen."

Da war Garrido 18, eigentlich viel zu alt für eine Karriere als Tänzer und immer öfter Adressat besorgter Elternblicke:

"Meine Mutter ist Künstlerin, mein Vater war Bankdirektor. Eigentlich haben sie mich immer unterstützt, aber als ich mit dem Tanzen anfing, fragte mich mein Vater besorgt, ob ich das wirklich kann: tanzen."

Ja, konnte er. Der internationale Durchbruch kam vor drei Jahren mit "Still standing", dem Duett mit Pieter Ampe. Seitdem ist Garrido ein gefragter Performer. Er choreografiert seine eigenen Stücke und tritt auch als Musiker auf. Garrido zieht es immer wieder in Grenzregionen, ob er sich auf der Bühne prügelt oder wie für sein letztes Projekt mit befreundeten Tänzern und Choreografen zu einer Wüstensafari aufbricht. Eine Recherche ganz eigener Art:

"Wenn vier sehr intensive Männer mit ihren Egos, ihren schrägen Eigenheiten, ihren Launen durch die Wüste fahren, unterwegs in einem Auto, die sich das Bett teilen, ständig zusammen sind und ständig bombardiert werden mit irgendwelchen Leuten, die ihnen was verkaufen wollen, dann kommt da… Dann kommt da …"

… ein Tanzstück heraus. "A coming community" haben Gui Garrido und seine Wüstengefährten ihr getanztes Reisetagebuch genannt. Die Deutschlandpremiere findet am 16. August im Rahmen des "Tanz im August"-Festivals in Berlin statt. Es ist die dritte Einladung des Künstlers zum Festival. Mit Anfang 30 ist Gui Garrido mittlerweile eine feste Größe in der Tanzwelt. Was würde er tun, wenn er nicht tanzen würde?

"Ich würde gern ein besserer Koch werden. Ich denke wirklich darüber nach, eine Lehre als Koch anzufangen!"

Gui Garrido am Herd. Die Gerichte aus seiner Küche muss man sich so vorstellen, wie seine Performances: mächtig, üppig, sehr scharf gewürzt und mit viel Fleisch.


Service:

Das "Tanz im August"-Festival findet vom 10. bis 25. August 2012 in Berlin statt.