Der Stoff, aus dem Polizeiserien sind

03.10.2011
1988 hat David Simon die Seiten getauscht: Der langjährige Polizeireporter hat ein Jahr als Praktikant bei der Polizei von Baltimore mitgearbeitet. Daraus entstand 1991 das Buch "Homicide" und später die berühmte Polizeiserie "The Wire".
Ein Sachbuch aus dem Jahr 1991 macht Furore: David Simons Klassiker der Polizeireportage, "Homicide", ist mit blamabler Verspätung jetzt endlich auf Deutsch zu lesen. Der Journalist hatte 1988 ein Jahr lang mit den Detectives der "Homicide Section", also dem Morddezernat, von Baltimore, getarnt als "Polizeipraktikant" Dienst getan. Notfalls rund um die Uhr, als "Fliege an der Wand" hat Simon Polizeialltag erlebt und zu einer 800 Seiten langen, intensiven Reportage verdichtet.

Auf dem Sachbuch basierte die grandiose, von Barry Levinson produzierte Fernsehserie "Homicide", die in den späten 1990er-Jahren tief in der Nacht versteckt auch im deutschen Fernsehen, bei Vox lief, praktisch unter Ausschluss der Öffentlichkeit. Aus "Homicide" entwickelte sich später "The Wire", für viele Menschen die beste Polizei-Serie aller Zeiten. Im deutschen Fernsehen ist "The Wire" auch nicht zu sehen, aber die medialen Konsumgewohnheiten haben sich geändert.

Besonders amerikanische Fernseh-Serien werden auf DVD kollektiv geschaut oder via Internet. "The Wire" ist Kult und insofern hatte auch das Grundlagenbuch aller dieser Dinge, eben "Homicide", plötzlich eine Chance auf dem Buchmarkt, zumal es als Non-Fiction auch noch in die "Reality"-Welle fällt.

David Simon belegt als Reportage, was der Ex-Polizist und Romancier Joseph Wambaugh ein Jahrzehnt früher mit seinen Cop-Romanen und semi-fiktionalen Büchern ("Der Tod im Zwiebelfeld") literarisch umgesetzt hatte: Den Blick auf Polizei- und Aufklärungsarbeit, der von dem üblichen Klischee des skandalösen "Einzel-Falls" abweicht und eine unendliche Kette, eine blutige Kontinuität von Gewalt und Tod sichtbar werden lässt.

Die Detectives bearbeiten fünf oder sechs Tötungssachen gleichzeitig, sie stehen unter politischem Druck, sie müssen erfolgreich sein, um im Job zu überleben. Polizeiarbeit, so macht Simon deutlich, besteht aus langen Fruststrecken, aus Ermittlungspannen und Sackgassen. Die Klientel, ob als Opfer, Täter, Zeugen oder sonst wie Beteiligte, besteht nicht aus den angenehmsten Zeitgenossen. Auch eine mittlere Stadt wie Baltimore ist gewalttätig. Armut, Rassismus, Drogen und Verwahrlosung geben die Atmosphäre auf den Straßen vor.

Simon erzählt geschickt, mit einem sehr berührenden, für alle Beteiligten traumatischen, abscheulichen Mordfall an einem elfjährigen schwarzen Mädchen als narrative Lebensader. Daran und an dem Wahnsinn des Alltags hängt Simon die Porträts der Polizisten auf. Er zeigt ihren spezifischen Humor, ihre Sprache, ihre Sicht auf die Welt und ihre teilweise faszinierenden Biografien, wie die des exzentrischen, aber brillanten Cops, der Fachmann für griechische Spitzenweine, Avantgarde-Literatur und Jazz ist, aber als Afroamerikaner keinen schwarzen Jargon beherrscht.

Auch wenn sich seit 1988 kriminaltechnisch viel getan hat, CIS-Verhältnisse sind immer noch utopisch: Die beinharte, zermürbende und frustrierende "Arbeit am Menschen" und nebenbei ein Porträt Baltimores (die Stadt E. A. Poes und Billie Holidays) in noir machen die bleibende Qualität von Simons Buch aus.

Besprochen von Thomas Wörtche

David Simon: Homicide. Ein Jahr auf mörderischen Straßen
Übersetzt von Gabriel Gockel, Barbara Steckhan, Thomas Wollermann
Verlag Antje Kunstmann, München 2011
827 Seiten, 24,90 Euro

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