"Der starke Mann wird natürlich Präsident Mursi sein"

Stefan Weidner im Gespräch mit Katrin Heise · 17.12.2012
Ägypten stehe vor einer Zerreißprobe. Die Dialogbereitschaft zwischen den verschiedenen, sehr heterogenen Fraktionen sei völlig zusammengebrochen, sagt Stefan Weidner über die Lage am Nil. Das Land sei derart gespalten, dass die Islamisten - selbst wenn sie formell die Mehrheit behielten -, das Land nur mit brutaler Gewalt unter Kontrolle bekommen könnten.
Katrin Heise: Am vergangenen Samstag hat das umstrittene Verfassungsreferendum in Ägypten begonnen. Seit Wochen spitzt sich dort ja die Lage zu, zum Teil fallen Worte wie drohender Bürgerkrieg oder eben eine islamisch geprägte Diktatur. Der Journalist, Literaturwissenschaftler und Islamwissenschaftler Stefan Weidner ist gerade aus Ägypten zurück, am Freitagabend. Er hat dort wochenlang zahlreiche Gespräche gehört, intensiv die Debatten in der ägyptischen Presse auch verfolgt und an vielen Demonstrationen auch selber teilgenommen. Ich grüße Sie, Herr Weidner!

Stefan Weidner: Guten Morgen, Frau Heise!

Heise: Es gab jetzt am Wochenende Proteste, es gab Demonstrationen, damit war ja auch zu rechnen. Wie sind die abgelaufen, friedlicher als Sie erwartet hatten?

Weidner: Die sind friedlich geblieben, die Stimmung insgesamt bleibt angespannt. Es kam nicht zu sehr groben, großen Wahlfälschungen, aber doch zu Beeinflussungen, was sich daran zeigt, dass sich zum Beispiel … dass die Muslimbrüder vor den Wahllokalen aktiv sind und die Wähler zu beeinflussen suchen, dass die Prediger die Wähler dazu aufrufen, doch für die Verfassung zu stimmen. Die Salafisten haben sogar gesagt, wenn die Verfassung abgelehnt wird, dann betreiben wir einen Dschihad.

Und insgesamt muss man natürlich sagen, dass dieser ganze Abstimmungsprozess sehr undemokratisch ist. Denn wir müssen uns vor Augen halten, dass die Ägypter nur zwei Wochen Zeit hatten, um über diese Verfassung zu diskutieren. Selbst in Deutschland würde man allein für das ganze Prozedere der Wahlorganisation mehrere Wochen brauchen, und natürlich haben die Allerwenigsten diese Verfassung überhaupt gelesen. Ich habe … Erst vor einer Woche kam durch Zufall, wurde mir im Zug ein Exemplar in die Hand gedrückt, dafür musste ich auch noch Geld bezahlen. Also, das Ganze ist an sich schon relativ problematisch.

Heise: Ja, man konnte sich also gar nicht wirklich informieren. Wir sehen ja auch die Bilder Tag für Tag in den Nachrichten, demonstrieren aufgebrachte Menschen, auch ein unerbittliches Aufeinandertreffen eigentlich zwischen der Position der Muslimbrüder auf der einen Seite und der Revolutionäre auf der anderen Seite. Sie haben sich ja nun wochenlang im ganzen Land bewegt. Wie ist denn die Stimmung im Land tatsächlich, also im Land, nicht nur in den Städten? Wie politisch aufgeladen ist diese Stimmung?

Weidner: Ja, die Stimmung ist wirklich angespannt. Ich frage mich, wie man das sehen würde als Tourist, der jetzt überhaupt keine Ahnung hat und der die Debatten nicht mitbekommt, der würde vielleicht gar nichts merken. Wenn man aber die Leute reden hört, wenn man versteht, was sie sagen, wenn man das Land kennt, wie es vorher war, nämlich durchaus weniger angespannt, durchaus offener auch für die Fremden, dann merkt man diese riesige Anspannung, auch diese Bereitschaft, ich würde fast sagen, zu Gewalt oder zumindest zur radikalen Opposition.

Man merkt es, wenn man durch die Provinz geht als Ausländer, man wird sehr komisch angeschaut. Ich bin an Ecken und Enden von allen möglichen Leuten gefragt worden, wer ich eigentlich sei und was ich jetzt hier machen würde und warum ich überhaupt hier sei, was einem sonst nie passiert ist! Und auch auf dem Tahrir-Platz zum Beispiel, also einem … der Hochburg der Proteste, da blieb es die meiste Zeit friedlich. Man hat überhaupt keine Polizei gesehen. Also, ein anderes Phänomen ist diese Anarchie im Land, die Polizei schien verschwunden zu sein, sie hat sich verschanzt hinter einigen Betonbarrikaden und hat von dort manchmal Tränengas auf die Angreifer geschossen. Also, die Stimmung ist sehr angespannt. Sie war sehr spannend zu sehen, aber es ist natürlich deprimierend für die Ägypter selbst.

Heise: Wenn Sie von früher sprechen, dann meinen Sie die Zeit jetzt zwischen der Revolution und dem, was jetzt passiert, oder? Also, das Aufgeräumte, Diskussionsfreudige jetzt im positiven Sinne, das haben Sie ausgemacht nach der Revolution, nehme ich an?

Weidner: Ja. Wobei da schon …, eigentlich seit der Revolution ist die Stimmung in Ägypten angespannt, das muss man ganz klar sagen. Es gibt eine … Es gibt praktisch seit der Revolution keine funktionierende Regierung mehr, es gibt ein Machtvakuum, genau deswegen finden jetzt auch die Streitigkeiten da statt. Präsident Mursi von den Muslimbrüdern ist gewählt, aber er hat de facto wirklich nicht die Macht. Er kontrolliert nicht die Polizei, kontrolliert nicht das Militär, deswegen musste er seine Privattrupps sozusagen, die Schlägertrupps der Muslimbrüder auffahren, um während der Proteste vor dem Präsidentenpalast den Präsidentenpalast schützen zu lassen, das muss man sich mal vorstellen!

Heise: Kommen wir mal dazu, wie das ganze Land sich auf dem Weg, oder ob sich das ganze Land überhaupt auf dem Weg zur Demokratie bewegt. Denn dieses zarte Pflänzchen war ja irgendwie da durch den Asphalt gekrochen. Demokratie braucht Vertrauen. Der Unterlegene muss darauf sich verlassen können, muss darauf vertrauen, dass seine Position, wenn auch unterlegen, beachtet wird. Dieses Vertrauen in die Politik, die kann man in Ägypten nach Jahren der Diktatur wahrscheinlich überhaupt nicht ausmachen, dieses Vertrauen, oder?

Weidner: Genau, das fehlt. Es fehlt vor allen Dingen auch die Bereitschaft, anzuerkennen, dass politische Prozesse verhandelt werden müssen, dass sie nicht einfach dekretiert werden müssen, dass man sie nicht einfach bestimmen kann. Und es fehlt bei vielen Menschen auch ein wenig die Geduld mit dem demokratischen Prozess, dass das Ganze Zeit braucht, und viele Leute haben so eine Art horror vacui, eine Angst vor diesem Machtvakuum, das durch diese politischen Prozesse zwangsläufig eingekehrt ist. Und man hört sehr oft den Wunsch nach einem neuen starken Mann und natürlich ist das der Ruf von konservativen Kräften, das ist ganz klar. Aber dieser starke Mann wird natürlich der Präsident Mursi sein, weil er der gewählte Präsident ist.

Man sagt immer: Der gewählte Präsident, dann kann er doch alles machen! Man reduziert die Demokratie auf den bloßen Wahlvorgang, man vergisst, dass es auch um ein Gleichgewicht der Kräfte gehen muss, dass es um eine Diskussionskultur gehen muss, um eine Medienfreiheit. Und schon jetzt las ich in der Presse der Muslimbrüder fast regelmäßig, fast täglich auf den Kommentarseiten den wirklich erschreckenden Aufruf zur Reinigung der Medien, oder dass doch endlich die Diktatur der Minderheit beendet werden soll, und die Diktatur der Minderheit besteht darin, dass es eben tatsächlich Leute gibt, die gegen diesen Präsidenten protestieren. Und damit kommen viele, gerade in konservativen Milieus, nicht klar.

Heise: Stefan Weidner beobachtet den politischen Wandel in Ägypten. Herr Weidner, zur Demokratie gehört eben Diskussion, Streit, Auseinandersetzung, auch mal ein bisschen härter. Das alles ist man nicht man nicht unbedingt gewöhnt. Wir hören ja eben von Ihnen, wie sich das dann gleich anhört, dass man gleich wieder dagegen ist. In welchem Ton wird überhaupt diskutiert?

Weidner: Also, ich würde sagen, es wird eigentlich gar nicht diskutiert. Diskutieren heißt ja, dass man miteinander redet. Und das Miteinander-Reden findet nicht mehr statt. Die Verfassungskommission, die Kommission, die zuständig war für die Verfassung, besteht seit einigen Wochen, seit einigen Monaten fast nur noch aus Islamisten und Salafisten, weil die anderen sich zurückgezogen haben, weil sie gemerkt haben, sie können ihre Positionen gegen diese islamistischen Strömungen nicht durchziehen. Und seitdem ist im Grunde der Dialog zwischen den verschiedenen, sehr heterogenen Fraktionen im Land, würde ich sagen, völlig abgebrochen. Es gibt tatsächlich keine Diskussion, es gibt nur noch eine Konfrontation.

Jeder fährt seine eigene Politik in die Zeitungen … Wie soll man sagen, es ist wirklich ein Zusammenbruch der Medienkultur. Es gibt große, sehr viele Zeitungen, so viele, wie es früher nie gab, und man kann dort lesen, was man will. Es gibt Karikaturen vom Präsidenten, die könnten Sie hier nicht von Angela Merkel sehen oder zeigen. Aber alle diese Zeitungen sind nicht mehr irgendeiner Art von Presseethik in einem objektiven Sinne verpflichtet, sondern sind praktisch zu Propagandainstrumentarien verkommen. Auf verschiedenem Niveau, sicher. Die säkulare Presse ist etwas bunter und verbreitet eher natürlich ein offenes, weltoffenes Gedankengut, aber auch dort lesen wir radikale Positionen. Die Muslimbrüder werden unverhohlen als faschistisch bezeichnet, was ich ehrlich gesagt, in Klammern, teilweise auch verstehen kann, wenn ich die islamistische Presse lese. In der islamistischen Presse, ich hatte es angedeutet, wird dazu aufgerufen, doch endlich mit der Opposition Schluss zu machen. Und es gibt keinen genreübergreifenden Dialog mehr, auch keine Aktivisten mehr, die das noch versuchen.

Heise: Kommen wir mal auf die Aktivisten zu sprechen: Kulturschaffende spielten in der Revolution gegen Mubarak und vorher auch schon eine bedeutende Rolle, sind eben während der Revolution auch zu Aktivisten geworden. Wie ist denn die Position heute? Also, mischen die sich überhaupt noch ein, was tun sie?

Weidner: Ja, also, sie mischen sich weiterhin ein, man kann sagen, dass alle ernst zu nehmenden Kulturschaffenden in unserem Sinne mit der Opposition sind gegen die Muslimbrüder, zur säkularen, liberalen Opposition zählen. Das ist absolut verständlich, nachvollziehbar. Es ist natürlich klar, dass die meisten in dieser Situation keine hochkulturellen Aktivitäten mehr betreiben, die meisten Schriftsteller schreiben jetzt keine Bücher mehr, sondern sie schreiben Artikel, sie mischen sich ein in die Diskussion, sie haben ihre Kolumnen in den Tageszeitungen. Es gibt ein paar Ausnahmen, zum Beispiel der Journalist Ibrahim Eissa, der eine neue Zeitung gegründet hat, "Al Tahrir", also nach dem Namen des Platzes, hat ein Buch geschrieben, das aus der Perspektive eines islamistischen Fernsehpredigers dieses ganze Fernsehpredigermilieu karikiert und auf den Arm nimmt, ein Politikwissenschaftler (Name im O-Ton nicht verständlich) von der Amerikanischen Universität in Kairo, auch ein bekannter Romancier, hat ein Buch geschrieben, das sozusagen die Zukunft Ägyptens in zehn Jahren oder mehr voraussieht, und dort kommt es dann zunächst zu einer islamistischen Regierung, die dann gestürzt wird von einer Militärregierung. Und er guckt aus der Zukunft auf diese Ereignisse zurück. Das sind also die wenigen ernst zu nehmenden Publikationen, die tatsächlich die Lage schon sozusagen hochkulturell und wirklich auf hohem Niveau reflektieren. Ansonsten sind es mehr unmittelbare Reaktionen und Mitteilungen.

Heise: Und diese unmittelbaren Reaktionen, was erwarten Sie da ab nächster Woche? Werden die noch heftiger werden?

Weidner: Also, heftiger als ich das bis jetzt erlebt habe, geht es eigentlich nicht. Es kann nur zu wirklich noch stärkeren Straßenprotesten kommen. Die große Frage ist ja: Offenbar ist es so, dass Kairo, wo schon abgestimmt wurde, gegen die Verfassung gestimmt hat, ebenso Alexandria oder zumindest ein Teil von Alexandria.

Ist es möglich für einen Präsidenten, gegen die Hauptstadt zu regieren? Ist es möglich für einen Präsidenten, gegen die hoch gebildete Elite im Land zu protestieren, die das Land benötigt, um wirtschaftlich überhaupt auf die Beine zu kommen? Und ich denke, das ist nicht möglich, sodass selbst die Islamisten dann, wenn sie die Verfassung gewinnen, dann, wenn sie auch die Parlamentswahlen gewinnen, wenn sie formell eine Mehrheit haben, wird es ihnen nicht gelingen, das Land unter Kontrolle zu bringen, es sei denn mit brutaler Gewalt. Und dann ist die Frage, wie sich das Militär verhält, wird das Militär die Islamisten wieder stürzen oder nicht. Das heißt, die Situation wird unangenehm sein, davon gehe ich aus, in den nächsten Monaten und Jahren.

Heise: Befürchtung und auch Beobachtung von Stefan Weidner, Journalist und Islamwissenschaftler, zur Situation der Ägypter. Herr Weidner, ich danke Ihnen für das Gespräch!


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