Der Sinn der Religion

28.10.2009
Auf der Suche nach dem Sinn der Religion kommt man den eigenen menschlichen Wert- und Würde-Voraussetzungen auf die Spur, den Selbst- und Gottesbildern, meint Detektiv Stollberg und leuchtet mit der Taschenlampe der Aufklärung in die Kellernischen und Abstellkammern der Tiefenpsychologie.
"Wer meint, er könne das Christentum einfach vergessen, der täuscht sich über seine eigenen Wurzeln. Das Christentum gehört zum Abendland wie Dante und Goethe, Martin Luther und Johann Sebastian Bach, Immanuel Kant und Jürgen Habermas."

Einverstanden, dachte ich beim Lesen dieses Satzes. Aber zwischen Anerkennung einer historischen Tatsache und Aneignung einer religiösen Haltung liegt doch ein langer Weg, oder nicht?

Dietrich Stollberg, emeritierter Professor für evangelische Theologie, hat in Bielefeld-Bethel und in Marburg unterrichtet, hat 1972 die "Deutsche Gesellschaft für Pastoralpsychologie" mitbegründet und hält nun, 72-jährig, eine Art "Plädoyer für den Glauben. An die Gebildeten unter seinen Verächtern", wie er sein Buch in Anspielung auf den berühmten Text des Theologen Friedrich Schleiermachers von 1799 nennt.

"Soll man das glauben?" –das sind 22 gut strukturierte Kapitel mit 420 Seiten und die Titelfrage beantwortet Stollberg schon im Vorwort:

"Nein ! Man soll oder muss gar nichts glauben, wenn es einem nicht einleuchtet. Aber auch wer sich als nichtreligiös versteht, hat unüberprüfbare Voraussetzungen für sein Fühlen, Denken und Handeln und es lohnt sich, diesen mehr oder minder unbewussten Prämissen auf die Spur zu kommen."

Das lohnt sich tatsächlich. Denn auf der Suche nach dem "Sinn der Religion" – so der Untertitel – kommt man den eigenen menschlichen Wert- und Würde-Voraussetzungen auf die Spur, den Selbst- und den Gottesbildern, meint Detektiv Stollberg und leuchtet mit der Taschenlampe der Aufklärung in die Kellernischen und Abstellkammern der Tiefenpsychologie. Er ist bestürzt, wenn Menschen nur das für real halten, was man zählen, messen und naturwissenschaftlich beweisen kann. Als wären Träume, Bildwirkungen, Musik, Mythen und archetypische Symbole keine Realität.

Er unterscheidet sicheres Wissen ("securitas") von vertrauensvoller Gewissheit ("certitudo"), er unterscheidet das "Für-Wahr-Halten-von-etwas" vom "Vertrauen-auf-etwas" und er erklärt, wie wir ständig zwischen der Sphäre der Vernunft und der Sphäre des Glaubens wechseln, zum Beispiel, wenn es um Frieden, Gerechtigkeit und – natürlich – um die Liebe geht.

"Mein Freund – der Teufel", "Mein Feind – der Tod" - so süffisant muss man wohl philosophisch-theologische Essays über das Böse und die Endlichkeit übertiteln, um skeptische Leser bis zu Themen wie "Die ewige Seligkeit", "Die Wahrheit" und "Die Gemeinschaft der Kirche" zu locken.

Das Buch beginnt mit einer kritischen Durchsicht des Apostolischen Glaubensbekenntnisses, es endet mit einem persönlichen Bekenntnis zum Vaterunser und es könnte im Grunde auch "Die Stollberg-Dogmatik" heißen, die obendrein "sehr evangelische".

Aber weil der Herr Professor zu laienverständlichem Elementarisieren fähig ist, zu selbstironischem Humor und zu einem geschliffenen Dialog mit Atheisten auf Augenhöhe – deshalb ist es kein trockenes Lehrbuch, sondern ein großes Lesevergnügen geworden, finde ich.

"Religion drückt sich in den Sinnbildern ihrer Ursprungskultur und -zeit aus, zielt aber auf die Vorstellungswelt ihrer heutigen Adressaten. So wandert sie durch die Zeiten in einem permanenten Prozess der Inkulturation, weil Frömmigkeit zur Humanität gehört und man die 'Wahrheit' der Religion nicht auswendig lernen kann, sondern in Begegnungen erfahren, erleben und sich aneignen muss."

Besprochen von Andreas Malessa

Dietrich Stollberg: Soll man das glauben? Vom Sinn der christlichen Religion
Evangelische Verlagsanstalt, Leipzig 2009
420 Seiten, 19,80 Euro