Der Schweinemord von 1915

Als die Wissenschaft eine Hungersnot provozierte

Hunger an der Heimatfront: Frauen und Kinder stehen 1917 in Berlin Schlange an einem Lebensmittelgeschäft. Im Januar 1915 war zunächst Brot rationiert worden, es folgten weitere Lebensmittel.
Hunger an der Heimatfront: Frauen und Kinder stehen 1917 in Berlin Schlange an einem Lebensmittelgeschäft. © picture alliance / dpa
Von Udo Pollmer · 25.09.2015
Mehr als fünf Millionen Schweine wurden im ersten Quartal 1915 im Deutschen Reich geschlachtet. Das hatte fatale Folgen für die Bevölkerung. Udo Pollmer erinnert daran, wie der Rat von Wissenschaftlern zu einer beispiellosen Fehlentscheidung im Kaiserreich führte.
Vor 100 Jahren befand sich das Deutsche Kaiserreich im Ersten Weltkrieg. Im Herbst 1915 verschlechterte sich die Versorgung der Bevölkerung mit Nahrung rasant. Das Militär hatte, bevor es in den Krieg eintrat, versäumt ausreichend Lebensmittelvorräte für magere Zeiten anzulegen. Zwar verfügte das Reich damals über doppelt so viel Ackerfläche wie die Bundesrepublik heute, es konnte sich aber nur zu 80 Prozent selbst ernähren. Nachdem die britische Seeblockade die Importe mit Nahrungsmitteln unterband, wurde der Mangel deutlich spürbar.
Zuvor war der grandiose Plan deutscher Ernährungsprofessoren, um die vorhandenen Ressourcen optimal zu nutzen, kläglich gescheitert. Das Kaiserliche Statistische Amt hatte nämlich bei den Bauern erfragt, was sie denn noch so an Getreide, Kartoffeln und Vieh besäßen. Aus dem Ergebnis glaubten die Professoren folgern zu können, dass die Futtermittel für die 25 Millionen Schweine nicht reichen würden. Also empfahlen sie die außerplanmäßige Schlachtung von 5 Millionen Borstentieren.
Im Herbst 1915 war das Fleisch vom Frühjahr bereits verdorben
Im März 1915 waren die 5 Millionen geschlachtet. Damit kamen enorme Mengen von Fleisch auf einen Schlag auf den Markt, die Preise sanken in den Keller – und da man so viel Fleisch nicht essen konnte, wurden daraus Konserven hergestellt. Weil aber das Metall vor allem in den Waffenschmieden benötigt wurde, kam für die Konservendosen nur minderwertiges Blech zum Einsatz. Im Herbst 1915 war das Fleisch vom Frühjahr bereits verdorben. Die Fleischpreise explodierten.
Natürlich ahnten die Landwirte bei der Befragung, was durch die Kriegswirtschaft auf sie zukommen würde. Um Beschlagnahmungen zu vermeiden, hatten sie ihre Vorräte tunlichst verschwiegen. Mittlerweile erzielte Fleisch auf dem Schwarzmarkt Wucherpreise, Kartoffeln oder Weizen hingegen mussten zu vorgeschriebenen Niedrigpreisen abgegeben werden. Also verfütterten die Landwirte ihre Vorräte lieber an das Vieh, nicht nur die Futtermittel kamen in die Tröge, sondern offenbar auch Kartoffeln und Getreide, die eigentlich für den menschlichen Verzehr gedacht waren. Die Ernährungssituation der Bevölkerung verschlechterte sich abermals.
Kein Dung für die Äcker und dann noch ein verregneter Herbst
Die Dezimierung des Schweinebestandes wurde weiter vorangetrieben. Dies entspannte aber nicht die Versorgungslage bei Getreide und Kartoffeln, im Gegenteil: 1916 fehlte dadurch bereits der Dung von 9 Millionen Schweinen. Zwangsläufig sanken die Erträge auf den Äckern um mehr als die Hälfte gegenüber dem Vorkriegsniveau. Das Fehlen von tierischem Dünger war wohl die fatalste Folge der Massenschlachtungen. Zudem konnte Deutschland aufgrund der Seeblockade kaum noch Salpeter aus Chile importieren, so dass auch kein Stickstoffdünger mehr zugekauft werden konnte. Die restlichen Salpetervorräte beschlagnahmte das Militär, sie wurden zur Herstellung von Munition benötigt. Dazu kam im verregneten Herbst 1916 eine Missernte durch die Kartoffelfäule. Die Hungerkatastrophe war da.
Erst wurden die Lebensmittel rationiert, danach die Kartoffeln durch Steckrüben ersetzt, dann gab es nur noch Steckrüben – und schließlich wurden auch diese rationiert. Mit den Steckrüben begannen Hungerrevolten und Massenstreiks. Die damaligen Steckrüben-Sorten stanken beim Kochen und schmeckten bitter, sie waren aufgrund ihres hohen Wassergehaltes zudem von geringem Nährwert. Der Hunger provozierte fatale Verwechslungen von Lebensmitteln, beispielsweise sehen die stark giftigen Knollen des Eisenhuts so ähnlich wie Steckrüben aus.
Nicht umsonst heißt diese schmähliche Episode im Gedenken an die Urheber "Professorenschlachtung". Einige Historiker sind überzeugt, dass die verzweifelte Lage in der Heimat durch die beispiellosen Fehlentscheidungen der Ernährungsexperten ein wesentlicher Grund für die militärische Niederlage des Deutschen Kaiserreichs im Ersten Weltkrieg war. Die Idee, die Bevölkerung nicht mit Schweinefleisch, sondern mit Schweinefutter zu verköstigen und der nicht bedachte Ausfall des Stickstoffdüngers führten dazu, dass damals 800.000 Bürger erbärmlich verhungerten. Mahlzeit!

Literatur
Keckl G: Klargelegt: Von Professoren empfohlen. DLZ Agrarmagazin 26.1.2015
Güll R: Der "Schweinemord" oder die "Professorenschlachtung". Statistisches Monatsheft Baden-Württemberg 2004; H.6: 55
Eckart WU: Ein deutscher Hunger: Ohne Nahrungsreserven in einen vermeintlich kurzen Krieg. Ruperto Carola 2011; H.3 & Universitas 2012; 2: 42-63
Schoberth W: Propaganda im 1. Weltkrieg: "Gold gab ich für Eisen". Infranken.de
Hajny R: Versuch einer politisch-sozialen Alltagsgeschichte des Ersten Weltkrieges 1914-l9l8 für die Stadt und die Amtshauptmannschaft Pirna. Lohmen 2010
Burchardt L: Die Auswirkungen der Kriegswirtschaft auf die deutsche Zivilbevölkerung im Ersten und im Zweiten Weltkrieg. Militärgeschichtliche Zeitschrift 1974; 15: 65-98
Roerkohl, A: Der Erste Weltkrieg in Westfalen, Lebensmittelmangel und Hunger an der "Heimatfront", Landschaftsverband Westfalen-Lippe, Münster, 1987
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