Der Schwache und die Sportliche

16.07.2013
Ein unsportlicher, unscheinbarer Mann verliebt sich in eine durchtrainierte, gut aussehende Gymnastikideologin. Er will heiraten, sie lehnt die Ehe ab. Das Buch von Edmondo de Amicis ist eine amüsante und kluge Emanzipationskomödie aus dem Jahr 1892.
Sexuelle Erfahrungen haben sie noch nicht und ganz jung sind sie auch nicht mehr: der schüchterne Ex-Seminarist, der die Hausverwaltungsgeschäfte seines Onkels besorgt und die stattliche Gymnastiklehrerin, die ihren Körper allein dem Sport verschrieben hat. Er ist unsterblich in sie verliebt, offenbart ihr seine Gefühle, sie lehnt ab, will die keusche Turnerin bleiben. Der Mann leidet, sie macht Karriere. Er geht in den Turnverein, um ihr zu imponieren, sie will Italien und die ganze Welt durch Gymnastik verbessern.

Aktuell diskutiertes Ehemodell: Der Mann als Haushälter
Der italienische Autor erzählt - wie viele der Fin de Siècle Geschichten jener Jahre - vom Geschlechterkampf. Sie ist stark, er ist schwach, er will heiraten, sie will keine Ehe. Und: Er bietet sich als Hausmann an, der ihr den Rücken für Karriere und Turnen frei halten will. Spätestens da wird dieser Roman höchst aktuell.

Abgesehen davon, dass die Körperideologie, dass der Glaube an den Sport als allein seligmachende Disziplin gut zur Fitnesswelle unserer Tage passt. Es geht nicht um die antike Maxime, nach der nur in einem gesunden Körper ein gesunder Geist wohnen könne, vielmehr macht sich Edmondo de Amicis Ende des 19.Jahrhunderts vor allem lustig über die ideologischen Grabenkämpfe, die auch in der Sportlergemeinschaft herrschen: Komplizierte Übungsanordnungen gegen freies Training.

Nachbarschaftliches Ränkespiel im Mietshaus
Schauplatz dieser Emanzipationskomödie ist ein Mietshaus, "wie geschaffen für die Machenschaften und die Heimlichkeiten einer Liebesleidenschaft. Es war eines der ältesten Häuser Turins, ein ehemaliges Kloster...". Hier finden nachbarschaftliche Ränke und freundschaftliche Verwerfungen statt: Die propere Gymnastiklehrerin teilt die Wohnung mit einer ältlichen Kollegin, die ihr keinen Verehrer gönnt.

Die bibelfesten alten Schwestern grüßen nicht mehr. Der Sohn des aufgeklärten Ingenieurs ist ein Nebenbuhler - und fast kommt es zum Duell. Zum Schluss gibt es trotzdem ein überraschendes, seltsames und ironisches Happy End. Die starke Gymnastiklehrerin besinnt sich auf den schwächlichen Mann - und entscheidet sich damit für ein ungewöhnliches Ehekonzept samt alternativer Arbeitsteilung, die - wie es in dem kundigen Nachwort heißt - "auch heute noch ein Experimentierfeld der Familienplanung ist".

Besprochen von Manuela Reichart

Edmondo de Amicis: "Liebe und Gymnastik"
Aus dem Italienischen von Barbara Kleiner
Manesse Verlag, Zürich/München, 2013
254 Seiten, 19,95 Euro