Der schreibende Pseudologe

29.03.2012
Flucht aus der Wirklichkeit, Annehmen fremder Identitäten, Hochstapelei, krankhaftes Lügen: Joachim Heimannsberg meint, den Schlüssel für Karl Mays lebenslange Probleme mit der Umwelt in dessen Jugend zu finden.
Man mag zum Schriftsteller Karl May stehen, wie man will: Ein Lebenswerk von 50.000 Druckseiten nötigt Respekt ab. Mit mehr als 100 Millionen verkaufter Bücher im deutschsprachigen Raum ist er einer der erfolgreichsten deutschen Schriftsteller. Aber auch 100 Jahre nach seinem Tod bleibt der Schöpfer des Winnetou eine schillernde Gestalt. Weil seine Fabulierkunst nicht auf die Romane aus dem Wilden Westen und dem Orient beschränkt blieb, sondern die Fantasie mit Karl May mitunter auch in dessen realem Leben durchging, ist seine Persönlichkeit nach wie vor schwer fassbar.

Joachim Heimannsberg meint, den Schlüssel für Mays Probleme mit seiner Umwelt, die ihn sein ganzes Leben begleiten, in seiner Jugend zu finden: Aufwachsen in Armut, unter einem gewalttätigen Vater, in strengen Ausbildungsstätten, erste Bekanntschaft mit der Justiz, Inhaftierungen, dabei die unstillbare Sehnsucht nach Liebe und Anerkennung. Wobei die enge Nachbarschaft von Dichtung und Wahrheit bei Karl May nicht einmal sicher sagen lässt, ob er tatsächlichaufgrund Vitaminmangels in seinen ersten Lebensjahren blind war, oder ob auch dies Teil der nachträglich von ihm veränderten Biografie war.

Für Heimannsberg steht fest, dass Karl May Pseudologe war, also ein Krankheitsbild verkörperte: Flucht aus der Wirklichkeit, Annehmen fremder Identitäten, Hochstapelei, krankhaftes Lügen – dafür spricht das eher dilettantische Verhalten Mays bei seinen Vergehen, derer er sich bis an sein Lebensende schämt und die ihn bis dahin verfolgen.

Heimannsberg sieht Mays psychische Störungen mit Beginn der schriftstellerischen Arbeit umgelenkt in literarische Fantasie. Die scheint May im Übermaß zu besitzen. Seine Erzählungen, die er erst für Erbauungs- und Jugendblätter schreibt, spielen in aller Welt, immer aber identifiziert sich der Vielschreiber mit seinen Hauptfiguren, fließt auch Biografisches ein. Ganz kann er sich aber von Unwahrheiten und Übertreibungen bis ins Alter nicht trennen: Obwohl Protestant. tritt er als katholisch auf, lässt sich den Doktortitel vor seinen Namen setzen und wiegt alle Welt in dem Glauben, er habe die Gebiete bereist, über die er schreibt.

Spät, erst um die 50, gelingt ihm der Durchbruch mit eigenen Büchern, noch später macht er sich auf seine beiden einzigen großen Reisen: Die erste in den Orient verstört ihn, als die blühende Fantasie auf die Realität trifft. Und auch in Amerika sprengt er nicht verwegen auf dem Pferderücken durch den Wilden Westen, sondern bewegt sich im Osten der USA von Hotel zu Hotel.

Joachim Heimannsberg nähert sich dem Autor in salopper Weise, ironisch mitunter, aber dennoch mit Respekt. Er beschreibt Karl May als einen, der "das Herz am rechten Fleck" hatte, humanistisch, religiös, vorurteilslos, doch mitunter etwas ungeschickt war, was ihm immer wieder schadet. Die Schriften beurteilt er unterschiedlich, das Spätwerk als reifer. "Im Reiche des silbernen Löwen" bezeichnet er sogar als "große Literatur". Dem Buchtitel gemäß mit Karl May auf Reisen befindet man sich allerdings nur im übertragenen Sinn: Joachim Heimannsberg bezieht sich auf das Reisen als eine Metapher des 19. Jahrhunderts für das Leben. Um dieses Leben Karl Mays geht es in dem Buch.
Das Wiedererkennen des Lesestoffs der Kindheit in den langen Original-Textpassagen hat seinen Reiz. Doch hätten kürzere, aber zahlreichere Zitate mit zusätzlichen konkreteren Erklärungen das Buch abwechslungsreicher und spannender gemacht.

Besprochen von Stefan May

Joachim Heimannsberg: Karl May auf Reisen – Mit dem Erfinder von Kara Ben Nemsi und Old Shatterhand unterwegs
Meyers, Mannheim 2012
288 Seiten mit 14 Abbildungen, 18,99 Euro
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