"Der Schamane war ein Spezialist für Psychosen"

Klaus E. Müller im Gespräch mit Thorsten Jabs · 06.08.2011
Der Ethnologe Klaus E. Müller beschreibt den klassischen Schamanen als Spezialisten innerhalb von Gesellschaften, hauptsächlich in Sibirien und Nordamerika. Er sei in der Lage gewesen, mit Geistern in Kontakt zu treten und sollte vor allem den Jagderfolg sichern und Psychosen heilen.
Thorsten Jabs: Zurück von einer schamanischen Reise in Bremen wollen wir uns jetzt mit der wissenschaftlichen Herangehensweise beschäftigen: Die Ethnologie, die im angelsächsischen Raum kulturelle Anthropologie oder Sozialanthropologie genannt wird, beschäftigt sich seit mehr als 100 Jahren mit den Glaubensvorstellungen indigener Gesellschaften, Naturreligionen werden sie umgangssprachlich oft genannt.

Am Telefon begrüße ich Klaus E. Müller, emeritierter Professor für Ethnologie der Universität Frankfurt am Main und Autor von Büchern wie "Schamanismus. Heiler, Geister, Rituale" oder "Der sechste Sinn. Ethnologische Studien zu Phänomenen der außersinnlichen Wahrnehmung". Guten Tag, Herr Müller!

Klaus E. Müller: Grüß Gott, Herr Jabs!

Jabs: Herr Müller, ist Schamanismus mehr als nur Hokuspokus?

Müller: Ja, es ist auf jeden Fall mehr, denn es war lebensnotwendig für eine bestimmte Gruppe von Bevölkerungen, um ihre Existenz abzusichern. Aus diesem Bedürfnis heraus ist ein ganzer Glaubens- und Handlungskomplex erwachsen, ohne den die Bevölkerung zumindest ihrer Einstellung nach nicht hätten überleben können.

Jabs: Wie erklären Sie einem Laien in einfachen Worten Schamanismus?

Müller: Über den Ursprung des Begriffs herrscht eine gewisse Unklarheit, ob der nun aus einem indischen Zusammenhang kommt oder aus einem tungusischen Wort – die Tungusen sind in Zentralsibirien die Hauptbevölkerung. Es handelt sich im Grunde genommen darum, dass ein Spezialist innerhalb der Gesellschaft, der eine bestimmte Initiation durchlaufen hat, in der Lage ist, mit den Geistern Kontakt aufzunehmen und mithilfe der Geister Probleme der Menschen zu lösen.

Jabs: Wo ist – oder vielleicht besser: war – Schamanismus auf der Welt denn verbreitet?

Müller: Also, er war auf jeden Fall nach allem, was wir wissen, nicht in Afrika verbreitet, aber sonst relativ überall, aber in ganz verschiedenen Formen. Was wir unter klassischem Schamanismus verstehen – also verbunden mit einer Seelenreise –, diese Form war in Sibirien verbreitet – also, in historischer Zeit –, in Sibirien und Nordamerika. Zu Teilen noch in Südamerika und einigen Teilen Südostasiens, aber in der Hauptsache in Nordostsibirien und wahrscheinlich eben auch früher in Europa, während der letzten Eiszeit.

Jabs: Können Sie denn mal so ein Beispiel nennen, wie zum Beispiel vielleicht so ein schamanistisches Ritual abläuft?

Müller: Ja, hierzu muss man voraussagen, warum ein solches Ritual veranstaltet wird. Also, es gibt zwei Möglichkeiten: Die Hauptprobleme dieser Gesellschaften waren einmal das Überleben, die Existenz, da sie zur Hauptsache von der Jagd lebten, ging es um die Sicherung des Jagderfolges. Das Zweite waren scheinbar unheilbare Krankheiten, darunter verstand man schwere Psychosen. Und dazu – zum Jagderfolg wie zur Heilung von Psychosen – bedurfte man bestimmter Geister. Und es ging jetzt darum, mit diesen Geistern in Kontakt zu treten.

Dazu diente eine solche schamanistische Séance. Die konnte aber nur jemand durchführen, der vorher die schon erwähnte Initiation durchlaufen hatte, die ihn zu einem Wesen, halb Mensch, halb Geist gemacht hatte. Die Séance selber spielte sich meist in einem größeren Zelt ab, wo alle Leute versammelt waren, denn das ist so gewesen wie in einer kirchlichen Veranstaltung, dass der Hauptakteur die Gemeinde brauchte, die reagierte, die ihn anfeuerte und immer auf das, was er tat, ja in bestimmter Weise eben reagierte. Und zunächst musste er sich, wenn er seine Seele aus dem Körper lösen will, damit sie zu den Geistern gelangen kann, die Seelenreise, die sogenannte Psychoperipatie war der griechische Ausdruck, dazu muss er in Trance geraten.

Denn Sie können die Seele nur vom Körper lösen, wenn Sie Ihre Physis abdämpfen, so wie Sie im Schlaf träumen können, nur im Schlaf oder mal Halluzinationen in Dämmerzuständen haben, so müssen Sie den Körper abdämpfen. Und das geschieht mit verschiedenen Methoden, sagen wir mal, durch rhythmisches Trommeln, durch einen Singsang, durch Hin- und Herschaukeln, in manchen Gebieten – aber das ist nicht alt – auch durch Drogen.

Jabs: Das heißt, um das noch mal klarzustellen, ein Schamane war nicht unbedingt ein Heiler, der physische Krankheiten geheilt hat?

Müller: Nein, für physische Krankheiten hatte man andere Heiler, Jagdwunden oder dergleichen, das wurde auf andere Weise geheilt wie überall in traditionellen oder indigenen Gesellschaften. Aber der Schamane war ein Spezialist für Psychosen, weil die sind schwer heilbar, weil die die Seele betreffen. Die Anamnese, also die Beurteilung der Krankheit war: Jemand wird geisteskrank, wenn ein bösartiger Geist seine Seele geschnappt und entführt hat.

Jabs: Und wie ist man zu einem Schamanen geworden?

Müller: Da hat man interessanterweise fast ausnahmslos während der Pubertät ein sogenanntes Berufungserlebnis. Da wird man plötzlich bewusstlos für einige Tage und die Leute wissen schon Bescheid und separieren einen ab in irgendeinem kleinen Raum oder bringen einen auch in den Wald, wenn Sommer ist. Und dann hat man plötzlich Wundmale an den Gelenken und andere Erscheinungen und ist aber bewusstlos.

Das bedeutet, dass man innerlich Folgendes erlebt: Die guten Geister, die Hilfsgeister des künftigen Schamanen entführen ihn in ihr Reich, in eine dunkle, unterirdische Höhle, und dann trennen sie zunächst den Kopf ab und stellen den oben auf ein Wandbrett, sodass er zugucken kann, was dann geschieht. Und dann lösen sie seine Gelenke auseinander, nehmen das Fleisch ab, kochen es, um neues Fleisch zu gewinnen, setzen die Gelenke wieder zusammen und setzen das neue Fleisch an.

Da also die Geister an seiner Wiedergeburt sozusagen schöpferisch beteiligt waren, sind sie seine Verwandten geworden. Das heißt, er ist dadurch halb Geist, halb Mensch und hat die Garantie, dass in Zukunft diese Geister ihm behilflich sein werden, wenn er ins Jenseits reisen muss.

Jabs: Wenn man zum Beispiel im Internet um den Begriff Schamanismus herumstöbert, dann findet man viele spirituelle Zentren, die schamanistische Angebote auch bei uns in Deutschland liefern. Ist Schamanismus, losgelöst von gesellschaftlichen Funktionen, die Sie ja eben auch beschrieben haben, aus ethnologischer Sicht aber eigentlich überhaupt möglich?

Müller: Nein, und zwar deshalb nicht, weil Sie nur als Schamane heilen können, wenn Sie die Initiation durchlaufen haben. Sie müssen ein höheres Wesen geworden sein. Und diese Initiation ist äußerst qualvoll, wie ich ja eben beschrieben habe. Sie kriegen schon mit, was da mit Ihnen geschieht. Und dahinter steht das uralte Prinzip, was ja auch in der Antike bekannt war: Ein Arzt kann nur etwas heilen, was er selbst durchlitten hat. Und insofern kann ein sogenannter Stadtschamane, der nicht diese Krankheit durchlaufen hat, die auch nicht wieder heilen.

Jabs: Wie erklären Sie sich als Wissenschaftler diesen Zulauf von solchen Angeboten?

Müller: Das ist der neue Esoterikboom vermutlich, Sie haben ja vorhin ein Buch von mir erwähnt, ich bin seit 20 Jahren Vorsitzender der Wissenschaftlichen Gesellschaft zur Förderung der Parapsychologie, und da haben wir extra eine staatlich geförderte Beratungsstelle für sogenannte okkultgeschädigte Jugendliche. Das heißt, die bei solchen Leuten sind und hinterher mehr krank als gesund zurückkommen und die man dann aufklären muss, was eigentlich geschieht und warum und wieso und ob das richtig war oder falsch oder, ob jemand ihnen da einen Bären aufgebunden hat und so weiter. Man muss die Leute beraten.

Jabs: Glauben Sie selbst an das Übersinnliche?

Müller: Das ist eine schwierige Frage, weil es eine Glaubensfrage ist. Also, rein wissenschaftlich muss man vermutlich damit rechnen, aber ich würde vermeiden, übersinnlich zu sagen, sondern das sind durchaus empirische Erfahrungen, die manche Leute haben. Ich habe das selbst einmal gehabt, also ein telepathisches Erlebnis, als mein Vater starb, war ich 6000 Kilometer entfernt und genau um dieselbe Urzeit habe ich geträumt, dass er starb.

Und diese Fälle sind zu Hunderten, ich glaube, sogar Tausenden archiviert bei der Society for Psychical Research, also Gesellschaft für psychische Forschung in London, die damit ursprünglich begonnen hat. Also, diese Fälle von Telepathie sind absolut zuverlässig und sehr dokumentiert. Insofern würde ich sagen, man muss das durchaus für real nehmen.

Jabs: Und wie arbeitet man als Ethnologe, wie bewertet man zum Beispiel schamanistische Rituale, losgelöst vielleicht auch von eigenen Vorstellungen, die ja vielleicht im Westen auch durch Kirchen geprägt sind?

Müller: Indem man eben als Wissenschaftler arbeitet, das heißt, sich möglichst unnötiger Vorannahmen enthält, die Dinge beobachtet und vor allen Dingen vergleicht bei unterschiedlichen Gesellschaften. Und wenn sich dann Übereinstimmungen ergeben, dann untersucht man die auf ihre Bedeutung und Funktion hin. Und ein Ritual ist ein magischer Akt, das heißt, unter der Voraussetzung bestimmter Handlungsprinzipien und unter Verwendung bestimmter Praktiken kann ich ein Ergebnis erzielen, ob wir das für rational halten oder nicht. Aber ein Ritual hat einen magischen Effekt zum Ziel.

Jabs: Das heißt, als Ethnologe vergleicht man Kulturen miteinander ...

Müller: ... ja ...

Jabs: ... und auch bestimmte schamanistische Rituale miteinander?

Müller: Auf jeden Fall, ja, sonst kann man nicht erkennen, was das eigentlich bedeutet. Und da die Übereinstimmungen wirklich gewaltig sind "around the world", besteht auch aller Anlass dazu!

Jabs: Herr Müller, vielen Dank für das Gespräch!

Müller: Ja, schon fertig, ja! Danke Ihnen!

Jabs: Einschätzungen vom Ethnologen Klaus E. Müller zum Thema Schamanismus.

Äußerungen unserer Gesprächspartner geben deren eigene Auffassungen wieder. Deutschlandradio macht sich Äußerungen seiner Gesprächspartner in Interviews und Diskussionen nicht zu eigen.
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