Der Putsch nach dem Putsch in der Türkei

"Ein extrem gefährlicher Moment"

Präsident Erdogan verkündet nach einer Kabinettsitzung den Ausnahmezustand.
Präsident Erdogan verkündet nach einer Kabinettsitzung den Ausnahmezustand. © dpa
Gerald Knaus im Gespräch mit Korbinian Frenzel · 21.07.2016
Der türkische Präsident Recep Erdogan hat einen dreimonatigen Ausnahmezustand für die Türkei ausgerufen. Die Europäische Stabilitätsinitiative rät der EU, "beschwichtigend" auf Ankara einzuwirken und "rote Linien" ziehen.
Die Europäische Stabilitätsinitiative (ESI) hat die EU zur Besonnenheit im Umgang mit der Türkei aufgefordert. Der ESI-Vorsitzende Gerald Knaus sagte im Deutschlandradio Kultur, es sei jetzt wichtig, "beschwichtigend" auf die türkische Führung einzuwirken. Die EU müsse die Geschehnisse jetzt ruhig und "sehr aufmerksam" verfolgen, zugleich aber auch klare Signale zu schicken und rote Linien zu ziehen.
Knaus sprach von einem "extrem gefährlichen Moment", der Putsch von Teilen des Militärs sei ein "großer Schock" für das Land gewesen. Die Spannungen in der Türkei seien unterschätzt worden, sagte Knaus. Präsident Erdogan habe offensichtlich keine Kontrolle über das Militär – viele seiner engsten Militärberater seien verhaftet worden. "De facto weiß er nicht, was in der Armee, den Streitkräften, vor sich geht", betonte Knaus.
Zudem gebe es seit Jahren enormes Misstrauen unter den Generälen, Spannungen zwischen der Polizei und dem Militär und innerhalb der Justiz: "Jeder Staatsanwalt, der einen komplizierten Prozess angeht, weiß nicht, ob er selbst in ein oder zwei Jahren vor Gericht steht. Das führt zu einer Schwäche der Institutionen, zu großer Unsicherheit", sagte Knaus. Das Flüchtlingsabkommen mit der Türkei sieht er derzeit aber nicht gefährdet. Das Abkommen basiere nicht so sehr auf Vertrauen, sondern vor allem auf den Interessen aller Beteiligten. "Deswegen funktioniert es auch."

Das Gespräch im Wortlaut:

Korbinian Frenzel: Es gab viele Hoffnungen, die wir mit der Türkei verbunden haben, ganz grundsätzliche. Dass ein großes muslimisches Land modern und demokratisch sein kann und damit Vorbild für einen chaotischen Nahen Osten.
Und ganz praktische: Dass die Türkei als Brücke zwischen den Bürgerkriegsländern und Europa ganz entscheidend mithelfen kann, die Flüchtlingskrise zu meistern. Und jetzt das – ein Putsch, der wahre Putsch, der erfolgreiche, der Putsch der Führung um Recep Tayyip Erdogan, der immer mehr Macht an sich zieht. Haben wir die Türkei als Partner verloren?
Frage an den Mann, der Angela Merkel vor Monaten inspirierte, mit der Türkei einen Deal einzugehen in der Flüchtlingsfrage. Gerald Knaus, Vorsitzender der Europäischen Stabilitätsinitiative. Einen schönen guten Morgen!
Gerald Knaus: Guten Morgen!
Frenzel: Die Bundeskanzlerin Angela Merkel hat gestern erklärt, sie sieht keinen Grund, den Deal aufzukündigen, solange sich die Türkei an die Verabredungen hält. Sehen Sie das auch so?
Knaus: Wenn wir uns die Elemente dieses Abkommens noch mal ansehen, da ist zum einen das Ziel, die Kontrolle über die Grenzen wiederherzustellen, zum Zweiten, die Flüchtlingskonvention in Kraft zu behalten, also sie nicht auszusetzen, sondern sie im Rahmen der Gesetze zu machen, und zum Dritten, Griechenland und die Türkei nicht allein zu lassen mit dem Problem der Flüchtlinge.
Die Kontrolle über die Grenzen wurde hergestellt, das ist bis jetzt der Fall. Die Zahl der Leute, die die griechischen Inseln erreichen, ist auf ungefähr 50 am Tag gefallen von 1.200 jeden Tag noch Anfang März. Die Flüchtlingskonvention wurde bewahrt.
Es gab bis jetzt übrigens noch keine einzige Rückführung eines Flüchtlings, der in Griechenland einen Asylantrag gestellt hat in die Türkei. Von einer Massenabschiebung kann nicht die Rede sein.
Allerdings sind Griechenland und die Türkei bei der Bewältigung dieser Krise – und es gibt ja immer noch drei Millionen Flüchtlinge in der Türkei – bis jetzt doch eher noch alleingelassen worden. Da müsste man etwas tun.
Das war schon vor dem Putschversuch der Fall. Das ändert sich durch den Putschversuch nicht, wird nur schwieriger. Aber grundsätzlich ist es im Interesse der Türkei, der Flüchtlinge und der EU und auch Deutschlands, dass das weiterhin funktioniert.
Frenzel: Aber wenn Sie das Wort grundsätzlich bemühen und hier verwenden – kann eine Türkei, die sich gerade so entwickelt, wie sie es tut, mit einem Ausnahmezustand, mit einem immer autokratischer agierenden Regierungschef, kann diese Türkei noch ein Partner sein für die Europäische Union?

Das Flüchtlingsabkommen basiert auf Interessen, nicht Vertrauen

Knaus: Da gibt es zwei Aspekte. Das eine ist die grundsätzliche Frage, ob dieses Abkommen jemals auf Vertrauen basierte oder eher nur auf Interessen. Sowohl die Türkei als auch die EU und vor allem natürlich Deutschland, das eine Schlüsselrolle gespielt hat, haben ein Interesse an diesem Abkommen. Deswegen funktioniert es auch.
Bis jetzt musste die Türkei übrigens sehr wenig tun. Wenn Sie bedenken, dass bis jetzt, vom 4. April bis 5. Juli, aus Griechenland nur 468 Leute, und zwar alles Leute, die keinen Asylantrag gestellt haben, in die Türkei zurückgeschickt wurden - das sind weniger Leute, die die Türkei zurücknehmen musste als in den Wochen vor dem Abkommen.
Das heißt, für die Türkei ist dieses Abkommen derzeit keine große Bürde. Sie muss wenig tun, die EU tut auch wenig, nimmt den Türken wenige Flüchtlinge ab. Das macht es auf eine merkwürdige Art und Weise natürlich auch stabil.
Aber die zweite Frage, und das ist die entscheidende: Ist die Türkei für Flüchtlinge, die man zurückschicken wollen würde, ein sicheres Drittland? Und das ist derzeit sicherlich nicht zu beantworten. Denn wir wissen nicht, wie sich die Situation entwickeln wird.
Es ist essenziell und auch im Interesse der türkischen Bürger, aber auch der EU, dass die türkische Situation sich beruhigt, dass Menschenrechte respektiert werden. Das wird in der derzeitigen Situation von Panik und Ausnahmezustand nur schwieriger.
Anhänger des türkischen Präsidenten Erdogan halten eine Puppe, die den islamischen Prediger Fethullah Gülen darstellen soll, an einem Strick in die Höhe.
Angst vor dem Überschreiten "roter Linien": Anhänger von Präsident Erdogan hängen eine Puppe, die den islamischen Prediger Fethullah Gülen darstellen soll© AFP / Aris Messinis
Es gibt viele rote Linien, und es gibt die Gefahr, dass die Türkei diese Linien überschreiten wird. Von Wiedereinführung von Folter bis natürlich der Diskussion der Todesstrafe. Und all das würde natürlich das Flüchtlingsabkommen auch beeinträchtigen. Aber noch ist es nicht so weit.
Was man derzeit allerdings sicherlich nicht machen kann, ist einfach sagen, wir schicken jetzt Flüchtlinge in die Türkei zurück, ohne Garantien zu haben, die wir derzeit nicht bekommen.
Frenzel: Herr Knaus, wir erreichen Sie jetzt gerade in Athen. Sie waren allerdings in den letzten Tagen, auch am Tag des Putschversuches, in der Türkei. Was haben Sie dort erlebt? Wie haben Sie das Land erlebt? Und das verbunden vielleicht mit der Frage: Haben wir die inneren Konflikte, die Spannungen der Türkei vielleicht unterschätzt?
Knaus: Ich glaube, wir haben diese Spannungen sicherlich unterschätzt, denn das, was hier im Hintergrund im letzten Jahr abgelaufen ist, war ein Kampf, ein Ringen innerhalb aller Institutionen.
Nur ein Beispiel, das uns zeigt, wie leicht man sich verschätzen kann: Die Kontrolle, die der starke Präsident Erdogan, der diese Stärke immer projiziert und auch so wahrgenommen werden will, über sein eigenes Militär hat, die ist offensichtlich nicht gegeben.

Erdogan weiß nicht, was in der Armee vor sich geht

Viele seiner engsten Militärberater – er ist ja als Präsident hauptverantwortlich für die Streitkräfte –, aber viele seiner engsten Berater wurden jetzt verhaftet. Das heißt, er vertraut ihnen nicht, er vermutet, sie waren Teil dieses Plots. Das heißt, de facto weiß er nicht, was in der Armee, in den Streitkräften vor sich geht.
Und dieses Bild trifft auf viele Institutionen zu. Es gibt enormes Misstrauen unter den Generälen, seit Jahren, jeder misstraut dem anderen. Es gibt Spannungen zwischen Polizei und Militär, es gibt Spannungen in der Justiz. Jeder Staatsanwalt, der einen komplizierten Prozess angeht, weiß nicht, ob er selbst in ein oder zwei Jahren vor Gericht steht.
Das führt zu einer Schwäche der Institutionen, zu großer Unsicherheit und natürlich zu dieser katastrophalen Entladung dieses aus der Sicht von jedem, der in der Türkei war an diesem Abend, an diesem Freitag, katastrophalen Putschversuchs. Das ist ein großes Trauma, ist ein großer Schock. Und wir wissen, wie Länder reagieren in solchen Situationen, und zwar meistens schlecht. Das war in Amerika so nach dem Anschlag in New York, das war in Frankreich so, als der Algerienkrieg begann. In beiden starken Demokratien wurde darüber diskutiert, die Folter wieder einzuführen, die Menschenrechte auszusetzen. Das sind extrem gefährliche Momente, und hier ist es wichtig, beschwichtigend, so weit das geht, auf die türkische Führung einzuwirken und gleichzeitig eben auch einige klare rote Linien zu ziehen.
Pro-Erdogan-Demonstranten auf dem Taksim-Platz in Istanbul am 18. Juli 2016.
Pro-Erdogan-Demonstranten auf dem Taksim-Platz in Istanbul nach dem gescheiterten Militär-Putsch© AFP - Ozan Kose
Frenzel: Glauben Sie denn, dass wir in naher Zukunft damit rechnen müssen, dass wir nicht nur Flüchtlinge wie bisher aus Syrien, aus Bürgerkriegsländern haben, sondern dass wir möglicherweise auch eine Art Flüchtlingswelle aus der Türkei erleben angesichts der politischen Verhältnisse dort?
Knaus: Dass einzelne Leute versuchen würden und vielleicht auch einen Grund dafür haben, Asyl in der EU zu beantragen, das ist jetzt nichts ganz Neues. Eine Massenauswanderung sehe ich nicht.
Im Gegenteil, ich glaube, bei der Visaliberalisierung etwa hat die EU sich in den letzten Monaten verrannt. Denn da ging es ja nie darum, die Regierung zu belohnen oder zu bestrafen, da ging es darum, ein Signal zu schicken an die Bevölkerung, das man ja eben verbinden kann auch mit Bedingungen. Ich glaube, es ist viel glaubwürdiger, man hätte etwa eine Visaliberalisierung eingeführt und würde dann dies an Bedingungen knüpfen, die der Bevölkerung klar sagt, das kann auch wieder verloren gehen, wenn beispielsweise eine Behandlung von Flüchtlingen oder bei anderen Dingen rote Linien überschritten werden.

Visafreiheit: Die EU hat Symbolpolitik gemacht

Was man stattdessen gemacht hat, war Symbolpolitik. Man hat gesagt, wir wollen die Regierung nicht belohnen, und jetzt sehen wir, in diesem Moment, dass die Regierung vielleicht sogar eher ein Interesse daran hat, dass die Leute gar nicht reisen.
Abgesehen davon, dass Staatsbeamte in der Türkei ohnehin visafrei reisen, sie und ihre Familien, über zwei Millionen Menschen. Das heißt, ich glaube, es ist in dieser Situation sehr wichtig für die Europäische Union, ruhig, sehr aufmerksam die Situation zu verfolgen, aber auch klare Signale zu schicken. Man hat größeres Interesse, man wird andere Maßstäbe an die Türkei anlegen als etwa in Ägypten nach dem Putsch, aus dem einfachen Grund, weil einem die Türkei nähersteht und weil man mehr und vitale Interessen daran hat, dass die Türkei nicht abgleitet oder weiter abgleitet von dem Ziel eines europäischen demokratischen Rechtsstaats.
Frenzel: Einschätzungen von Gerald Knaus, Vorsitzender der Europäischen Stabilitätsinitiative, die hinter der Idee stand, mit der Türkei einen Flüchtlingsdeal einzugehen. Ich danke Ihnen für das Gespräch!
Knaus: Viele Grüße aus Athen!
Äußerungen unserer Gesprächspartner geben deren eigene Auffassungen wieder. Deutschlandradio Kultur macht sich Äußerungen seiner Gesprächspartner in Interviews und Diskussionen nicht zu eigen.
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