Der Privatmann Freud

15.06.2010
Der Soziologe Michael Schröter hat Briefe von Sigmund Freud an seine Kinder und Enkel zusammengetragen. Die meisten von ihnen werden zum ersten Mal veröffentlicht. Sie zeigen Freud als liebevollen und fürsorglichen Vater.
Sigmund Freud war nicht nur der Vater der Psychoanalyse, sondern auch Vater von sechs Kindern. Mathilde, Martin, Oliver, Ernst, Sophie und Anna wurden zwischen 1887 und 1895 geboren. Letztere ist die Bekannteste: das einzige Kind, das selbst als Psychoanalytikerin Ansehen erlangte. Ihr Briefwechsel mit dem Vater wurde vor ein paar Jahren ediert. Der nun von Michael Schröter herausgegebene Band enthält hingegen die Briefe Freuds an seine fünf älteren Kinder (und gelegentlich ihre Briefe an ihn), aus den Jahren 1907 bis 1938. Da war Freud über 50 Jahre alt, etabliert, und die Kinder waren schon erwachsen.

Sigmund Freud kümmert sich auch im Detail um das Wohl seines Clans – sei es, indem er alle seine Kinder und Schwiegerkinder bis weit ins Erwachsenenalter finanziell unterstützt, sei es, indem er sie in Gesundheits- oder Herzensfragen berät. Seinen beiden Töchtern Mathilde und Sophie rät er von zu frühen Ehen ab, akzeptiert aber beide Male ihre Entscheidungen. Seinen Sohn Martin warnt er vor freiwilligem Kriegsdienst, unterstützt aber auch dessen Entschluss.

Überhaupt zeigen die Briefe Freud nicht als autoritären Patriarchen, sondern als Vater, der sich bemüht, die Freiheit seiner Kinder zu unterstützen und ihren Entscheidungen zumindest nachträglich den väterlichen Segen zu geben. Auch wenn der berühmte Doktor Freud für seine Kinder ein Übervater blieb, aus dessen Schatten sie sich nur schwer lösen konnten – keiner seiner Söhne brachte es langfristig selbstständig zum Erfolg –, für das Zeitalter autoritärer Väter wirkt sein Tonfall bemerkenswert offen. Wie der Herausgeber in der Einleitung treffend bemerkt: auch der Privatmann Freud bemüht sich um jene Wahrhaftigkeit, die die Psychoanalyse als therapeutische Praxis so bahnbrechend gemacht hat.

Die Briefe sind nicht nur für eingefleischte Freud-Adepten interessant. Denn einerseits bietet die hervorragende Edition von Michael Schröter in den Anmerkungen genug Kontext, damit man sich auch ohne Vorwissen zurechtfindet. Andererseits liefert die Korrespondenz dieser gebildeten, gut vernetzten, bürgerlichen, jüdischen Familie einen wunderbaren Einblick die europäische Geschichte des frühen 20. Jahrhunderts.

Alltagsgeschichte aus erster Hand: Man erfährt etwas über die Organisation von Schulen, Armeen und Berufen, man liest, wie man reiste, was zu einer Aussteuer gehörte, oder auch von der relativen Alltäglichkeit offen gelebter unehelicher Beziehungen, von Scheidungen und Abtreibungen. Zum anderen aber finden auch die großen politischen Ereignisse Widerhall in diesen Briefen, etwa wenn Freud in den 30-er Jahren in Wien hofft, der Austrofaschismus werde milder ausfallen als der deutsche, und er könne um das gefürchtete Exil herumkommen: "schön wird er auch nicht sein, aber in der Fremde ist es auch nicht schön". Es sind tausend solcher Details, die insgesamt ein faszinierendes Panorama abgeben – das Panorama einer berühmten Familie und einer untergegangenen Epoche.

Besprochen von Catherine Newmark

Sigmund Freud: Unterdeß halten wir zusammen. Briefe an die Kinder
Herausgegeben von Michael Schröter, unter Mitwirkung von Ingeborg Meyer-Palmedo und Ernst Falzeder
Aufbau Verlag, Berlin 2010
686 Seiten, 34,00 Euro