"Der Preis ist eine Ehre"

Moderation: Jörg Plath · 08.08.2005
Der türkische Schriftsteller Orhan Pamuk erhält den diesjährigen Friedenspreis des Deutschen Buchhandels. Es sei für ihn eine Ehre und er sei stolz darauf, mit dem Preis ausgezeichnet zu werden, sagte Pamuk. Ob er aber aus literarischen oder politischen Gründen den Preis erhalte, könne er nicht sagen, wahrscheinlich sei es eine Kombination von beidem.
Jörg Plath: Herr Pamuk, alle Helden ihrer Bücher sind außerordentlich ehrgeizig. In "Die weiße Festung" und "Das schwarze Buch" wollen die Protagonisten nicht weniger, als ihre Identität zu wechseln, in "Das neue Leben" wird eben dieses neue Leben gesucht, in "Schnee", ihrem letzten auf Deutsch veröffentlichten Buch, verzehrt sich der Held – beinahe muss man sagen: – nur nach der Liebe einer schönen Frau. So viel Ehrgeiz, so viel Sehnsucht.

Orhan Pamuk: Vielleicht bin ich ein ehrgeiziger Mensch! Auch wenn ich einen Roman schreibe, reiße ich mich um die schwierigste Aufgabe. Es gibt Autoren, die schreiben nebenbei, und solche, deren Arbeit und ganzes Leben nur dem Ziel dient, eine bestimmte Anzahl von Bänden hervorzubringen, und der Rest zählt nicht. Ich gehöre zu diesen Autoren. Ich fürchte immer, das Leben zu verpassen. Aber ich habe mich akzeptiert, so wie ich bin. Und ich kenne nur ein einziges Ziel: große, ambitionierte Bücher zu verfassen. Natürlich kann dieser Radikalismus einen auch dazu bringen, große Kitsch-Bücher zu schreiben, richtig schlechte Bücher. Aber so bin ich nun einmal. Ich sympathisiere mit Protagonisten, die genauso ambitioniert sind, und versuche, sie zu erfinden. Sie haben die Träume der Armen, der Traurigen, der Verlierer.

Das ganze türkische Verwestlichungs- und Modernisierungsprojekt hatte ja eine naive Seite. Es gleicht einem strebsamen armen Studenten, der nichts stärker wünscht, als Teil des Westens zu werden. Ehrgeiz ist die Hoffnung, ich würde nicht sagen: der Armen – aber derjenigen, die nichts haben. Und ich selber hatte auch das Gefühl, nicht viel zu haben. Es ging nicht so sehr darum, dass es hier keine Kultur gegeben hätte, sondern dass es im Westen eine andere gab, die man sich aneignen wollte. Daher war das Gefühl, stets im Wettbewerb zu stehen, sich beweisen zu müssen, nicht nur eine unentbehrliche Voraussetzung für den Blick dieser Kultur auf die Welt, sondern auch für die Kultur, die solche Leute wie mich hervorbrachte. Ich war stets voller Ehrgeiz. Ehrgeiz ist Opium für diejenigen, die in der Zukunft leben.

Plath: Sie haben mehrere Jahre in den USA gelebt. Hat diese Erfahrung ihren Blick auf die Türkei verändert?

Pamuk: Meine Sicht der Literatur hat sich verändert, meine problematische Beziehung zur so genannten Tradition, diesem gehätschelten Liebling der Konservativen, wandelte sich. In den frühen Achtzigern, Mitte der Achtziger, las ich in Bibliotheken und Buchhandlungen viel Avantgarde, Postmoderne, Experimentelles und lernte von ihnen. Das meiste war stark von Borges beeinflusst, von Calvino, Pynchon und auch von John Barth. Ihre Vorstellungen von Erzählungen nicht als Geschichten oder Fiktion, nicht als Drama, sondern als etwas Phantastischem ließen mich zurückkehren zu den traditionellen islamischen Sufi-Schriften. Diese Literatur, die türkische, persische, eigentlich eher persische als türkische Tradition ist ein großer Schatz, aber ich kannte ihn nicht und meine Generation wusste nicht, wie sie ihn heben sollte, wie sie sich ihm nähern sollte. Denn wir waren gehemmt durch den sehr starken Wunsch nach Verwestlichung, nach Säkularisation, und wie Marcel Duchamps das Alte zu benutzen, wieder zu benutzen, das wurde von einer früheren türkischen Autorengeneration als reaktionär, islamisch und unmodern angesehen.

Plath: Ihre Bücher sprechen immer wieder von den zentralen Problemen der Türkei. Man kann die Romane als Reisen in das Herz der türkischen Finsternis und ihrer hellen Episoden lesen. Warum kommen sie davon nicht los?

Pamuk: Weil dieses Land in den letzten 200 Jahren mit äußerster Anstrengung, unter Aufbietung aller Kräfte durch den Staat versucht hat, dem Westen ähnlich zu werden. Das bedeutet nicht anderes, als dass unsere Geschichte unglücklich ausgegangen ist. Wir haben irgendetwas verloren, also müssen wir uns etwas Neues aneignen. Das hat die regierende Elite nicht nur der Republik, sondern der letzten 200 Jahre der Nation, dem Volk, der öffentlichen Meinung eingehämmert. Wenn es aber einen solchen starken Willen zur Veränderung einer Kultur gibt, dann entsteht natürlich Widerstand, und diese Kultur als Ganzes besteht aus dem Kampf zwischen – nennen Sie es, wie Sie wollen: Tradition und Moderne. Die Journalisten sprechen gern von Ost und West. Oder Vergangenheit und Zukunft.

Plath: Auch Österreich oder Großbritannien haben wie die Türkei ein Imperium verloren…

Pamuk: Okay, ich sage Ihnen, was an der Entwicklung in der Türkei einzigartig ist. Großbritannien hatte ein Empire und verlor es, ist aber nicht so traurig wie die Türkei. Die Briten hatten das Gefühl, dass die USA ihre Geschichte fortsetzten. Es gibt das Empire nicht mehr, aber die Lebensqualität ist trotzdem hoch. Aber hier sank die Lebensqualität. Türken waren beunruhigt darüber und sind es noch und es prägt ihr Lebensgefühl heute, dass sie am Rand von Europa leben und ganze 3000 Euro pro Kopf verdienen, während es in Europa 30.000 sind. Und Kemal Atatürks offizielle Kulturpolitik in Bezug auf die Osmanen lief auf "Vergessen wir’s" hinaus. Diese Generation war von positivistischen französischen Gedanken durchdrungen und dachte: Warum fiel das osmanische Reich? Wegen der Religion, wegen des Islams. Lasst uns also den Islam unterdrücken, damit wir westlich werden.

Plath: Woraus könnte eine neue türkische Identität entstehen?

Pamuk: Dieses ganze Identitätsgerede ist doch Fake. Ich will darüber nicht sprechen. Meine Bücher mögen davon handeln, aber ich kann nicht sagen, woraus sich die türkische Identität speisen könnte. Aber ich weiß, dass Türken realistischerweise beunruhigt darüber sind, nicht gut genug zu sein, zu wenig Geld zu verdienen, zu wenige Güter zu produzieren, nicht erfinderisch genug in der Technik und nicht kreativ genug zu sein in den Künsten. Und sie haben allen Grund zu dieser Beunruhigung. Kritisch sehe ich allerdings die Ängstlichkeit im Denken, die die Verfassung des normalen Türken heute prägt und die um die Identität kreist. Das geht zu weit. Wir Türken sind überempfindlich in Bezug auf das, was andere über uns sagen. Im Wesentlichen geht es doch darum, dass die Türkei arm ist, am Rand Europas liegt und dass wir Türken wissen, wie reich die anderen sind.

Plath: Dann ist der Beitritt der Türkei zur Europäischen Union die Lösung des Problems?

Pamuk: Ich bin natürlich für die Aufnahme der Türkei in die EU. Aber es ist nicht so einfach, dass wir dann wohlhabend werden und alle Probleme gelöst sind. Europa ist gegenwärtig mit sich selbst beschäftigt, und es ist nicht der richtige Augenblick für Leute wie mich, darüber zu sprechen, was für eine wunderbare Idee die Aufnahme der Türkei ist.
In Europa ringen verschiedene Ideen über den Charakter der Union miteinander. Definiert sich Europa ausschließlich über die Vergangenheit? Das ist eine konservative Ansicht, und sie lässt letztlich alles auf Diskussionen über die Agrarpolitik und die Verteilung von Geldern zusammenschrumpfen. So ist es immer bei kurzatmiger Politik. Aber langfristig braucht Europa eine umfassende Vision von sich, und daher empfehle ich die Aufnahme der Türkei. Es geht ja auch um Identität. Doch Identität ist kein Schicksal, sie kommt nicht nur aus der Vergangenheit. Identität wird erfunden. Die Idee des türkischen Beitritts zur EU gehört eher zur Zukunft als zur Vergangenheit.

Plath: Sie sind Anfang des Jahres nach einem Interview, in dem Sie ermordete Armenier und Kurden erwähnt haben, bedroht worden und haben die Türkei für einige Monate verlassen.

Pamuk: Ich möchte das nicht überbewerten. Es ist eine recht normale Sache nicht nur in der Türkei, sondern überall auf der Welt, dass aufgebrachte Menschen, besonders, wenn Boulevardzeitungen einen zum Feind des Volkes erklären, den Verleger anrufen oder Briefe schreiben und drohen: Wir werden Dich umbringen. Als es zuviel wurde, schlugen meine Verleger vor, dass ich doch die vorliegende Einladung der Columbia University in New York annehmen könnte. So einfach war das. Ich habe Glück gehabt. Ja, es gab sehr hitzige und hasserfüllte Reaktionen auf meine Äußerungen. Aber ich verstehe sie als Teil der türkischen Realität. Und ich will das alles nicht überbewerten.

Plath: Dass Sie den Friedenspreis des Deutschen Buchhandels erhalten, hat man in Deutschland als eine sowohl literarische wie politische Entscheidung verstanden.

Pamuk: Sehen Sie, ich schreibe jetzt seit 30 Jahren Bücher. Jedem sage ich stolz: Ich sitze seit 30 Jahren an diesem Tisch. Solch ein wichtiger Preis hilft, er ist eine Ehre. Ich war geschmeichelt. Andererseits: Man weiß nie, warum man einen Preis bekommt. Für dieses Buch? Oder jenes? Als Thomas Mann den Nobelpreis erhielt, ärgerte er sich, weil nur "Buddenbrooks" erwähnt wurde. Er hätte gern gesehen, dass das Komitee auch den "Zauberberg" erwähnt hätte. Es ist sinnlos, über die Gründe nachzudenken. Es ist besser und weiser, den Preis anzunehmen, als eine große Ehre und Auszeichnung. Ich bin sehr froh über ihn. Es mögen politische Gründe oder literarische sein, es kann auch – das sehe ich an den bisherigen Preisträgern – eine Kombination von beidem sein.