Der Pfälzer Bub

Von Anke Petermann · 16.06.2006
Fritz Walter und der 1. FC Kaiserslautern, das gehört zusammen wie die Pfalz und der Wein. Am 31. Oktober 1920 wurde der kleine Fritz geboren, als ältester von fünf Kindern; sein Vater war damals Wirt der Vereinsgaststätte. Hier wuchs er zusammen mit Bruder Ottmar, der an seiner Seite als Mittelstürmer Karriere machen sollte, auf.
Mit acht wurde Fritz in die Schülermannschaft des Vereins aufgenommen; keine zehn Jahre später spielte er schon in der 1. Mannschaft. Ein Talent wie ihn hat es auf dem Betzenberg nie wieder gegeben. Fritz Walter war sensibel und fleißig. Nach der Schule machte er eine Lehre als Kaufmannsgehilfe bei der Stadtsparkasse. Kaiserslautern zu verlassen - daran hätte er nie gedacht. Verein und Stadt dankten es ihm. Das Stadion auf dem Betzenberg trägt seinen Namen - nicht den irgendeines Unternehmens.

"Mei Mutter hat gesagt, 'er is ja so spät gelaufen'. 'Er is immer so faul', hat die Oma gesagt. Und dann hat sie gesagt, 'sprechen konnte er nicht, aber mit Fußballspielen mit zwei Jahren schon'. Irgendwie hat er immer n Ball geha’t ..."

... erinnert sich die Jüngste - Gisela, genannt Giesje - an die Sprüche über den älteren Bruder Friedrich, genannt Fritz. Am 17. Juni 2002 starb Fritz Walter mit 81 Jahren. Für die "Frankfurter Allgemeine Zeitung" hatte er Ende 1999 frühe Fußballerlebnisse aufgeschrieben:

"Ich war wohl erst sechs Jahre alt, als ich den etwas älteren Buben voller Neid beim Fußballspielen in den engen Gassen vor der Wirtschaft meiner Eltern zugeschaut und so lange gebettelt habe, bis sie mich mitmachen ließen. Dann war ich erstaunt, wie gut ich mit den kleinen Tennisbällen und den größeren Gummibällen umgehen, zwei, drei Jungen nacheinander umdribbeln konnte. Plötzlich war ich stolzer Straßenfußballer, obwohl ich vorher die Idee hatte, Wettbewerbsschwimmer zu werden."

"Um ein Haar wäre er dem Kaiserslauterer Schwimmverein Nummer eins Poseidon beigetreten, die haben eigentlich um ihn gerungen, bis er abgesprungen ist zum Fußball. Eine Beziehung zur Leistung hatte dieser Bursche von Anfang an, das ergibt sich daraus, dass er also auch ein perfekter Schwimmer war."

... erzählt Rudi Michel, geboren in Kaiserslautern, heute 84 Jahre alt. Vorerst spielte der neun Monate ältere Fritz noch "Kanälschers" - so nannten die Lauterer Jungs ihre Version von Straßenfußball mit alten Tennisbällen. Die Abflüsse lagen damals unter massiven Eisendeckeln, die in den Bürgersteig eingelassen waren. Zum Bordstein hin hatten diese Deckel eine Öffnung – etwa 20 cm hoch und 40 cm breit. Auf diese Mini-Tore spielte der "stolze Straßenkicker" mit seinen Freunden quer über das Gässchen hinterm Elternhaus - das hat er selbst später oft erzählt:

"... und ab und zu ham’mer sogar n Protokoll gekriegt oder hier ne Scheibe kaputt geschossen, und dann stand der Vatter schon do und hat immer zu mir g’sagt "du alter Esel, du warscht aach r dabei."

Dorothea Walter: "... und da haben die, wo zugeguckt haben, net, vom Fußball, , die haben immer gedacht, er bringt den Ball net fort, weil er so, so winzig war und hat n aber schön wegstoßen können und viele, viele Schuhe kaputt gemacht ..."

... hatte Mutter Walter, geborene Berlinerin, dem Südswestfunk-Reporter Fritz Danco verraten. Unter denen, die da Mitte der zwanziger Jahre dem Fritzchen beim "Kanälschers" zuschauten, waren zuweilen auch Kicker des "FC 1900 Kaiserslautern", später: 1. FCK. "Zum Walter" hieß die Eckkneipe, die Fritz’ Vater Ludwig im Erdgeschoss seines gründerzeitlichen Backstein-Hauses Bismarckstraße 24 betrieb. Obwohl damals noch nicht offizielles Vereinslokal, kehrten die Spieler häufig beim "Walter" ein. Mit 60 blickte Fritz Walter noch einmal auf diese Zeit zurück:

"Ich hab den Spielern den Koffer getragen auf den Betzenberg, (da) hat’s 10 oder 15 Pfennig’ gegeben - aber deshalb hab’ ich’s net gemacht. Und dann hat’s geheißen, ja der Fritz, der könnte doch eigentlich mol zum FCK gehen. Und da bin ich mit acht Jahren auf de Betze und hab’ angefangen in der Schülermannschaft ... "

Noch mal zurück zum "Kanälschers". Mit dem Straßenspiel begann eine lange Freundschaft, die Freundschaft einer späteren Sportreporter-Legende mit einer späteren Fußball-Legende. Wie, das beschreibt Rudi Michel in seiner Fritz-Walter-Biografie. Die beiden wohnten in verschiedenen Quartieren Kaiserslauterns.

"Seine Gastspiele bei uns waren selten, obwohl Straßenfußball unsere Freizeitbeschäftigung Nummer eins war. Dann und wann kam er doch, weil er den Werner Liebrich aus unserer Nachbarschaft kannte. Dann ging’s quer über die Straße von Kanal zu Kanal, und die heftigsten Zweikämpfe spielten sich in der Rinne ab. Der Tennisball musste in den Kanal, dessen torähnliche, ovale Öffnung sonst das Regenwasser zu schlucken hatte. Die Parteien waren immer schnell zusammengestellt. Er allein gegen uns, gegen uns zwei oder drei. Der dribbelte uns aus, wie er wollte. Mir blieb dabei meist nur die Kanalarbeit. Wie oft musste ich den schweren gusseisernen Deckel vom Bürgersteig mit drei Fingern hochheben, damit der Werner Liebrich den Tennisball wieder aus dem Gully fischen konnte! Bei 'zehn' zog er wieder ab, der Fritz, mit dem Fahrrad, und ließ uns streitend zurück."

1951 und ‚53 halfen die Liebrich-Brüder, den FCK an Fritz Walters Seite zum Deutschen Meister zu machen, 1954 wirkte Werner als Mittelläufer am "Wunder von Bern" mit. Vor dem Krieg wohnten die Liebrichs in einem Arbeiterquartier. Ernst, der ältere, starb 2001 mit 77 Jahren. In der frühen Bundesligazeit hatte er seine Jugenderinnerungen aufgeschrieben – Titel: "Freud und Leid rund um den Lederball". Der Historiker Markwart Herzog gab den Text jüngst im Jahrbuch für pfälzische Geschichte heraus. Auch Ernst Liebrich hielt "Kanälschers" für die wahre "Fußballschule", ist dort nachzulesen:

"Die Feinheiten, Tricks, die Härte und Ausdauer eigneten wir uns beim Kanälschers an. Da wurde getrickst, getäuscht, gezielt, mit Bande gespielt, gerempelt. Autos gab es in diesem Viertel überhaupt nicht, und so trugen wir in der Straße die reinsten Schlachten aus, die sich oft noch bei Gasbeleuchtung fortsetzten. Wir formten uns zunächst noch selbst im Umgang, im Dribbling, im Kopfballspiel, in der Ballbeherrschung, soweit es unseren Vorstellungen entsprach, und die Geschicktesten waren unsere Anführer. So wie wir uns rund um die Kottenschule zu einer Mannschaft zusammenschlossen, so gab es seinerzeit in unserer kleinen Stadt Hunderte von selbst organisierten 'Eckenmannschaften', deren Zentren auf öffentlichen Plätzen, an Hängen, neben Schulen, hinter Fabriken, auf Äckern zu suchen waren."

1932 trat der Arbeiterjunge Ernst Liebrich dem Lauterer "Sportclub" bei, wegen "politischer Unzuverlässigkeit der Mitglieder" lösten die Nazis den SC 1938 auf. Die Kicker beim "Verein für Rasenspiele" und beim Sportclub nannten die vom FCK "die Schnääker vom Betzenberg", also die "Wählerischen", frei übersetzt "die feinen Pinkel". Dem Sportjournalisten Günter Rohrbacher-List erzählten altgediente VfRler über Fritz Walters Eintritt in den 1. F.C. Kaiserslautern anno 1928:

"Der ging zum FCK, weil seine Mutter Berlinerin war, hochdeutsch sprach und den 'feineren' FCK gegenüber dem Arbeiterclub VfR bevorzugten. Außerdem verlangte sie ein paar Fußballschuhe für den Fritz, für die der VfR kein Geld hatte, die er aber beim 1. FCK bekam."

Der FCK war "in die nationalsozialistische Gewaltherrschaft eingebunden, einige seiner Mitglieder haben an dieser Diktatur auf verschiedenen Ebenen aktiv mitgewirkt", schreibt der Historiker Markwart Herzog. Zwischen 1938 und 45 stellte die NSDAP-Kreisleitung den Verein unter die Führung von Parteipolitikern.

Die Zeitzeugen erinnern sich jedoch kaum daran, wie vollständig ihr Sport den Zielen der nationalsozialistischen Herrschaft unterworfen wurde – die Jugendlichen um Fritz Walter hatten nur eins im Kopf: Fußball – wie die Nazis das für sich ausnutzten, nahmen die meisten wohl nicht wahr.

"Dann kam ich in die A-Jugend, mit 15, 16, da haben wir immer vor der ersten Mannschaft gespielt, und bei aller Bescheidenheit – ich hab’ also jede Menge Tore geschossen."

Noch war der FCK ein unbedeutender Provinzverein in der Bezirksliga. Den Anhängern, darunter die Familie Michel, war das egal. Die erste Mannschaft interessierte den kleinen Rudi nicht so sehr, er wollte das Vorspiel der Schülermannschaft sehen.

"Das war von den Eltern her ein Sonntagsvergnügen, Fußball in der damaligen Zeit, und wenn man selbst ein bisschen gekickt hat am Sonntag, ist man sonntags nachmittags mit dem Vater ins Betzenberg-Stadion oder 'auf den Betzenberg' gegangen. Und da hat der Vater gesagt: 'da, guck so einer wirst du nie, wie der Junge da.' Und das war dann der Fritz Walter. Fritz war schon mit zwölf Jahren der Liebling der Fußball-Fans, die sein Talent erkannt hatten. Und die Freude war riesengroß, wenn er zeigte, welche Tricks er mit dem Ball machen konnte. Der war ja eigentlich als Junge, als Heranwachsender war er schon ein Artist. 'Kunststückchen' nannten sie das in der Pfalz, 'der macht Kunststückchen'. Das war die Sensation. 'Der wird ein Internationaler', das haben sie alle gewusst. Ja, das haben wir erkannt, da brauchten wir keinen Herberger, wir waren alle Experten."

Fußballexperten, die harte Bänke drückten in einer Arena, die zwar inzwischen mit Rasen ausgestattet war, aber den Namen Stadion noch nicht wirklich verdiente, meint Fritz’ fünf Jahre jüngere Schwester Sonja.

"Ach Gott, ach Gott, da war’n noch so – wie will isch’n saache - so Holzlatte, wo so hinnernanner do – do ham’mir do druff g’sess’. Da war halt noch gar nix, net! Des war so ganz einfach!"
"Mir sind grad am rätsele – do, der do, tät ich saache. Do obbe mit der helle Jack’. Der mit der helle Jack’?"

"Die Pfalz am Ball" - so heißt eine kleine Ausstellung in der Pfalzbibliothek Kaiserslautern. Der Sohn von Fritz’ Bruder Ludwig und die Walter-Schwestern Gisela und Sonja nutzen die kleine Schau für das Suchspiel: Wer ist der Fritz auf den alten Fotos? Barbarossa-Volksschule, Jahrgang 1920. Zwei Reihen Jungs hocken, eine steht. "Giesje" deutet entschieden auf einen Knaben mit wellig-dunklem Haar und Seitenscheitel.

"Das isser. – Ah, dort obbe, des isser. - So hat er ausgesehen, ganz schmal. – Der Schmalkopf da. - Ganz schmal, der Fritz war ja ganz schmächtig."

Schmächtig, aber so talentiert, dass der Trainer ihn frühzeitig in die erste Mannschaft holen wollte:

"Dann war ich 17, dann sollte ich spielen, aber ich durfte nicht, weil man erst ab 18 Jahren spielen durfte. Selbst der Vereinsarzt konnt’ mir kee Genehmischung geben, denn ich war, wie man so schön sagt, ein Strich in der Landschaft, ein 'Sperber'."

Fritz Walter schloss gerade seine Lehre bei einer kleinen Bankagentur und die Berufsschule ab. Fleiß und Betragen lobenswert, alles andere sehr gut, so steht’s im Entlassungszeugnis vom April 1938. Kein Problem also, anschließend eine Stelle bei der Stadtsparkasse auf dem Stiftsplatz zu ergattern, direkt um die Ecke vom Elternhaus. Dort musste die Verpflegung allerdings durch viele Esser geteilt werden. Um sein größtes Nachwuchstalent aufzupäppeln, warb der FCK-Vorstand deshalb den Metzgermeister Hermann Speyerer als Mäzen an. Der saß schließlich direkt an den Fleischtöpfen:

""Da habe ich damals in der Buchhaltung der Stadtsparkasse gearbeitet und dann bin ich jeden Mittag in der Mittagspause hoch zu der Metzgerei Speyerer in die Glockenstraße, hab’ mit 16 oder 18 Metzgerburschen zu Mittag gegessen und noch (etwas) mitgekriegt. (Da) konnte ich noch zu Hause – wir waren ja fünf Kinder – konnte ich auch noch’n bisschen aufteilen ... "

Die Metzgerei in der Glockenstraße gibt’s heute noch, nur hängen nicht mehr so dekorative Wurstgirlanden im Schaufenster wie damals, als es noch von Säulenkapitellen mit verschnörkeltem Blattwerk eingerahmt war.

Albert Speyerer, 76, Sohn des verstorbenen Metzgermeisters, nennt das Esszimmer hinterm Ladenlokal "Stübbsche". Es war holzvertäfelt, der braune Kachelofen ist noch erhalten.

"Ja, des is’ original und aa die Eckbank und der lange Tisch. Da hat mei Vatter g’sesse, da mei Mutter, hier der Fritz und dann der Hermann, mei Bruder. Drübbe auf der anderen Seit’ hat mei Schwester g’sesse und da ich und dann es Personal. Unten hat die erste Verkäuferin oder der erste G’selle Platz genommen. Es hat alles sei strenge Ordnung gehabt."

Zehn Esser waren’s insgesamt. Nicht ganz so viele, wie Fritz Walter als 80-Jähriger in Erinnerung hatte, drängelten sich also um den Topf Gemüsesuppe, die damals noch "Franzosensuppe" hieß. Zwei Themen waren bei Tisch verboten: Politik und - Fußball. Worüber sich die Speyerer-Geschwister zuweilen hinwegsetzten. Sie behandelten Fritz wie einen Bruder, nicht wie einen prominenten Gast:

"So kumpelhaft, ebe. Da ist schon ä bissche g’flachst worde und so weiter, ne - aufgezoge. Er konnt’ sich riesig ärgern, wenn sie verlore hatte. Und wenn er dann noch schlescht gespielt hat, dann war er mal net zu genieße. Er war sehr sensibel und empfindlich. Genauso war er vorm Spiel immer so aufgeregt und hat sich übergeben, hat sich der Maache umgedreht."

Doch auch wenn der sensible Ball-Artist gelegentlich nichts zu sich nehmen konnte – das gehaltvolle tägliche Mittagsmahl bei Speyerers brachte ihn nach vorn.

"N halbes Jahr später hat’s plötzlich geheißen – in’nem Spiel mit der A-Jugend 'aus dem Fritzchen ist ein Fritz geworden'."

Und aus dem Abwehrspieler ein torgefährlicher Stürmer. Der, aufgerückt in die erste Mannschaft, den Verein in der Saison 1938/’39 von der Bezirksklasse mit 93 Treffern in die "Gauliga Südwest", mithin in die Erstklassigkeit kickte. Das Erfolgsgeheimnis: selbst verordneter Frühsport.

"Ja, da bin ich um sechs Uhr aufs Fahrrad, bin hoch zum Betzenberg, da waren noch die steilen Treppen, da hab’ ich’s Rad auf den Buckel genommen, hab’s hingestellt an den Zaun, bin drüber geklettert morgens um sechs und hab’ meine Runden gedreht, so wie ich mir gedacht hab’, dass es richtig is, war um sieben zu Haus, hab mich am Wasserstein – da gab’s noch kee Bad und kee Brause – ä bissel kalt abgeduscht, und um halb acht hab’ ich auf der Stadtsparkasse gesessen und hab gearbeitet."

Dass der Buchhalter fußballerisch für Großes taugte, wussten die selbst ernannten Experten auf den Zuschauertribünen längst, als es "Reichstrainer" Sepp Herberger zu Ohren kam. Verraten hatte es ihm, so erzählte Herberger später dem damaligen Südwestfunk, der Gausportlehrer Südwest, Karl Homann:

"Eines schönen Tages berichtete er mir von einem Lehrgang, den er in Kaiserslautern durchgeführt habe, wobei er ein ganz seltenes Talent entdeckt haben wollte. Nun – bald darauf hat Karl Homann seinen Gau-Lehrgang durchgeführt für die Gau-Mannschaft, mit der Gau-Mannschaft und den für die Gau-Mannschaft empfohlenen Nachwuchsspielern, und da bin ich nun dazu gekommen und habe meine Bekanntschaft mit Fritz Walter gemacht. Da wurde er mir noch gar nicht vorgestellt, da habe ich schon gesehen – es war gerade ein Spiel im Gange, als ich kam – habe ich schon gesehen, wen er gemeint hatte. Der Fritz Walter hat sich damals als Junger schon als großartiger Spielmacher aus der Mannschaft herausgehoben."

Das war im März 1939 in Frankfurt. Die Nationalsozialisten schickten sich an, die Welt aus den Angeln zu heben. Der gleichgeschaltete DFB stand kurz vor der Auflösung. In seinem Fußball-Universum erreichte Fritz Walter das Ziel seiner Träume – vorerst. In der Stadtsparkasse Kaiserslautern trudelte ein Brief ein, Absender Sepp Herberger, Adressat Fritz Walter. Dessen Vorgesetzter war Anton Buriska:

"Ich nahm den Brief in die Hand, warf Fritz den Brief rüber, er betrachtete den Absender, bekam einen roten Kopf, steckte den Brief ein und ging in den Waschraum. Nach einigen Minuten kam er wieder zurück, saacht er, ich hab’ hier einen Brief vom Herrn Herberger, ich soll mich vorbereiten, er will versuchen, in der nächsten Sitzung, die Mitte der Woche beim DFB in Frankfurt stattfindet, mich in die A-Mannschaft zu bekommen. Ich hab’ dann an einem späten Abend noch die Nachtmeldung gehört um 12 Uhr im Radio und hörte dann die Mannschaftsaufstellung und erstmals Fritz Walter in der Aufstellung."

Nationalspieler – mit 19! Der Reichstrainer wurde Mentor, vielleicht Vaterfigur. Herberger habe "mit dem Nationalsozialismus paktiert" und mit Blick auf seine berufliche Laufbahn "wesentlich von ihm profitiert" schreibt der Historiker Nils Havemann über den späteren Bundestrainer. Herberger – vor allem Karrierist? Für das enge Verhältnis Herberger-Walter ist das kaum von Belang, meint Theo Schwarzmüller, Direktor des Instituts für Pfälzische Geschichte und Volkskunde:

"Man muss sehen, es war auch landsmannschaftlich sehr eng. Die haben beide dieselbe Mundart gesprochen. Man muss sich ja vergegenwärtigen, Herberger kam aus Mannheim, sprach Kurpfälzisch, er hatte es gar nicht weit nach Kaiserslautern, er konnte also das Talent und die Fortschritte von Fritz Walter sehr genau beobachten und immer wieder auch unterstützen. Das Verhältnis zu Fritz Walter war aber eigentlich ein sehr persönliches, es hatte eigentlich wenig politische Hintergründe."

Fritz Walter sprach Herberger mit "Chef" an. Er begriff sich als dessen "verlängerter Arm auf dem Spielfeld" und brachte den Trainer zum Schwärmen.

"Über seine Balltechnik braucht ja gar kein Wort verloren zu werden – er war ein perfekter Ballkünstler. Aber er hat eben nicht nur den Ball beherrscht, er war auch ein Spielmacher. Er hat die Dinge vorausgesehen. Wenn der Ball zu ihm kam, wusste er schon längst durch seine kluge Voraussicht, was er mit dem Ball alles anfangen konnte, was richtig war vor allen Dingen. Und so hat er sich schon in aller Frühe als der Mann empfohlen, der mal unsere Nationalmannschaft eben auch spielerisch auf Vordermann bringen könnte."

Zu Kriegsbeginn, so Theo Schwarzmüller, hielt der Reichstrainer schützend die Hand über seinen Hoffnungsträger:

"Ja, es ist schon so, dass Fritz Walter durch seinen prominenten Status das Glück hatte, nicht direkt an die Front zu müssen, während ja sein Bruder Ottmar Walter sich eine schwere Kriegsverletzung zugezogen hat – er war ja bei der Marine und hat einen Einsatz nur mit viel Glück überlebt. Bei Fritz Walter war es so, dass er während des Krieges immer mal wieder zu diesen Länderspielen – so lange es noch welche gab - berufen wurde, und Herberger hat alles getan, alles unternommen, um diesen begnadeten Fußballspieler halt auch von der Front fernzuhalten."

An die Propagandafront musste der "begnadete" Spiel-Regisseur aber, auch wenn er selbst das wahrscheinlich nicht so sah.

"Vor allem ab 1936 hatten Länderspiele eine besondere außenpolitische Mission: geostrategisch wichtige Staaten in den deutschen Machtbereich zu ziehen, den internationalen Spielverkehr für die kriegsvorbereitenden Ziele des NS-Regimes zu nutzen und ab 1939 direkt für die Kriegspropaganda einzusetzen."

14. Juli 1940, Frankfurter Waldstadion, Deutschland gegen Rumänien. Fritz Walter hatte Lampenfieber. Wie die Zuschauer ihn sahen? Der Frankfurter Sportfeuilletonist Erich Klaila hat sich im Jahr 1956 in den "kleinen Müller" hinein versetzt, einen 15-Jährigen anno 1940 – von Geostrategie hatten der "große" Walter und der kleine Müller beide keine Ahnung.

"Zusammen mit anderen Buben lag er hinter dem Tor der Rumänen und wartete darauf, dass die deutschen Stürmer das Tor recht oft fanden. Als die Mannschaftsaufstellung bekannt gegeben wurde, sahen die Buben einander fragend an. Mittelstürmer Fritz Walter? Nie gehört! Der neue Mittelstürmer der Nationalelf war nicht viel älter als die Buben hinter dem Tor. Er wirkte ein wenig schüchtern. Herr Müller, damals noch der kleine Müller, hatte nicht viel Zutrauen zu dem Neuen. Aber dann schoss der Neue drei Tore. Von einem dieser Tore schwärmte der kleine Müller noch, als er schon längst der Herr Müller war."

9:3 gegen Rumänien – ein Triumph für die Deutschen. "Sie dürfen wiederkommen", teilte der Reichstrainer seinem 19-jährigen Nationalspieler mit. 14 Jahre später brachte Herberger als Bundestrainer die Anweisung zum Endspiel von Bern genauso knapp auf den Punkt. "Das Spiel macht der Fritz. Alle Bälle zum Fritz".


Quellen:
Walter, Fritz: Stolzer Straßenkicker. In: Wie alles begonnen hat: Vom Straßenfußballer zum Star für Millionen. Frankfurter Allgemeine Zeitung, Nummer 301, 27.12.1999
Scheu, Joachim: Fritz Walter ist tot – Nachruf. SWR 4 vom 17.06.2002
Danco, Fritz: ""Fritz Walters 60. Geburtstag" – 31.10.1980, " Fritz Walter im Gespräch mit Rudi Michel aus Anlass seines 80. Geburtstages" und "Wiedersehen am Nachmittag" – ein Funk-Feuilleton nach dem Länderspiel Deutschland – Schweiz 1956 in Frankfurt. Sprecher Friedrich von Bülow. In: Fritz Walter, Zauberer am Ball. Produktionen des SWF bzw. SWR von 1980 und 2002. Goya – Jumbo Neue Medien & Verlag GmbH Hamburg 2003. LC 06982
Michel, Rudi (Hrsg): Fritz Walter. Die Legender des deutschen Fußballs. Stuttgart 1995.
Herzog, Markwart (Hrsg.): "Freud und Leid rund um den Lederball!" von Ernst Liebrich. Eine Quelle zur Kulturgeschichte des 1. FC Kaiserslautern. In: Jahrbuch für Pfälzische Geschichte.
Rohrbacher-List, Günter: 1. Fußballclub Kaiserslautern. Der Berg, das Land und der Ball. Göttingen 1995.
AFH-Information 2006, Nr. 039. "Fußball im Nationalsozialismus: Kultur – Künste – Medien". Historische Tagung, veranstaltet von der Schwabenakademie Irsee in Kooperation mit der Deutschen Akademie für Fußballkultur. Irsee, 17-19.02.06.
Havemann, Nils: Fußball unterm Hakenkreuz. Der DFB zwischen Sport, Politik und Kommerz. Frankfurt a.M. 2005.
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