Der Nächste, bitte!

Von Astrid Mayerle · 30.10.2010
Er stellt einen vor schwierigen Fragen, der Nächste, den das jüdisch-christliche Gebot der Nächstenliebe meint. Wie können wir ihm begegnen? Wohin führt es, wenn wir uns des Nächsten annehmen? Mit diesen Fragen beschäftigt sich die neue Serie.
Der Nächste ist der Andere ist der Fremde ist all das, was unbekannt ist und dadurch auch Angst macht. Der Fremde, der Andere, der Nächste stellt unsere gut eingeübten Selbstverständlichkeiten infrage. Gewohnheiten, Lebensweisen, Denkmuster, Werte. Daher beinhaltet das Gebot der Nächstenliebe auch ein Gebot, mit der Angst vor dem Anderen, vor dem Fremden umzugehen. Es ist also ein ethischer Grundsatz zum Gelingen menschlicher Begegnungen. So könnte man jedenfalls auch folgende Stelle im dritten Buch Mose interpretieren:

Wenn bei dir ein Fremder in eurem Land lebt, sollt ihr ihn nicht unterdrücken. Der Fremde, der sich bei euch aufhält, soll euch wie ein Einheimischer gelten und du sollst ihn lieben wie dich selbst. Denn ihr seid selbst Fremde in Ägypten gewesen.

"Das ist einer der Spitzentexte, das würde ich sagen als Ethiker des Alten Testaments, weil dort nämlich Nächstenliebe und Feindesliebe verknüpft wird. Man kann sagen, da ist schon ein Ausgriff. Und dass es nicht so ist, dass diese Abgrenzung von den anderen Völkern dazu führt, dass die anderen Völker moralisch unter den Tisch fallen, auch nicht Berücksichtigung finden. Sondern dass auch die fremden Völker, auch bis zur Feindesliebe, Berücksichtigung finden."

Jochen Sautermeister, Moraltheologe.

Dem Nächsten, dem Anderen, dem Fremden begegnen: Die jüdische Philosophie ist eine Philosophie der Begegnung. Das gilt auch für die neuere jüdische Philosophie: Martin Buber, Franz Rosenzweig und Emmanuel Levinas haben sich mit diesem Thema auseinandergesetzt. Wie entsteht das Verhältnis zum Anderen, wie kann es beschaffen sein und aufrecht erhalten werden? In welches Verhältnis zum Anderen kann ich mich setzen, welche Ausgangssituation ist für eine gelungene Art von Begegnung Voraussetzung?

Halt, Widerspruch: Genau diese Fragen entspringen einem Denken der griechischen Philosophie, die Definitionen und Antworten sucht. Die jüdische Philosophie allerdings ist erzählend, sie hat kein Interesse an abschließenden Erklärungen, daher ist sie auch viel vorsichtiger in der Beschreibung des Verhältnisses zum Anderen. Der Religionswissenschaftler Michael Heinzmann:

"Das können wir sowohl bei Buber als auch bei Levinas feststellen, das sind die beiden hebräischen Spuren und Bahnungen der beiden Denker: Der Andere ist vor mir. Und durch das Erscheinen des Anderen, das sagt Buber und auch Levinas ganz deutlich, werde ich in dieser Relation zu mir selbst zu Ich."

Der Andere ist vor mir. Dieser Satz ist entscheidend. Er weist darauf hin, dass das Verhältnis zum Anderen Momente hat, die sich mir entziehen, die bereits bestehen, vorgeblich. Das ist ein wichtiger Aspekt der jüdischen Philosophie, ein weiterer: Auch das Verhältnis zu Gott ist maßgeblich durch den Anderen bestimmt.

Michael Heinzmann: "Das heißt also, wenn ich mit dem Anderen und er mit mir nicht menschlich umgeht, verneinen wir aufgrund dieser 'Vergegnung' – ein Begriff von Martin Buber – die Existenz Gottes. Zugrunde liegt ein Psalmvers, wo es sinngemäß heißt, wenn ihr mich als Gott anerkennt, bin ich euer Gott, wenn ihr mich nicht als Gott anerkennt, bin ich nicht euer Gott. Das heißt ganz konkret: Es ist die Frage unseres Verhaltens zueinander, ob Gott existiert oder nicht. Franz Rosenzweig schreibt im dritten Teil des 'Sterns der Erlösung', dass es Aufgabe von uns Menschen ist, Gott zu erlösen und nicht Gott uns erlöst. Was natürlich im christlichen Kontext nahezu undenkbar, aber eine der wichtigsten Aussagen ist, die man aufgrund der Tora und des Talmuds so begründen kann."

Das Gebot der Nächstenliebe ist unglaublich weit, es schließt viele andere Gebote mit ein – Toleranz, Großzügigkeit, Feindesliebe, Gerechtigkeit, Nachsichtigkeit, Vergebung und vieles mehr. Außerdem beinhaltet es auch eine absurde Komponente: Kann man Liebe gebieten, verordnen? Liebe kann doch weder verordnet noch geboten werden, sie ist, sie ereignet sich, oder? Jochen Sautermeister, Moraltheologe:

"Man könnte vielleicht sogar sagen, dass dieses Gebot der Nächstenliebe - da merkt man schon, Gebot und Liebe, wie kann man Liebe gebieten? - das ist kein affektiver Begriff, sondern das ist eine Grundhaltung, eine Grundeinstellung dem Anderen gegenüber, ihn wohlwollend zu behandeln, ihm wohlwollend zu begegnen. Im Gebot der Nächstenliebe steckt so was wie die Entscheidung zum moralisch Guten."

Erst im Neuen Testament und im nichtjüdischen Denken, nämlich in einem, das aus der griechischen Philosophie kommt, wurde die Nächstenliebe, beziehungsweise die Tugendlehre in Begriffen ausdifferenziert: eben Toleranz, Großzügigkeit, Feindesliebe, Gerechtigkeit, Nachsichtigkeit, Vergebung. Jochen Sautermeister über das bekannte Gleichnis des barmherzigen Samariters, wie es bei Lukas überliefert ist:

"Dieses Nächstenliebegebot und dann das Beispiel vom barmherzigen Samariter, das ist ja die Erzählung, wo erst der Samariter derjenige ist, der demjenigen hilft, der unter die Räuber gefallen ist. Der nimmt ihn mit, der macht 'Erstversorgung am Tatort', der bringt ihn in eine Herberge und hinterlässt dort Geld, dass sich der Herbergsbesitzer dort um ihn kümmert. Und da steckt schon drin, die Nächstenliebe beinhaltet eben auch in diesem Fall die Sorge um den Anderen, da steckt Toleranz drin, der Samariter gilt ja als nicht-orthodoxer Jude, der wird ja auch als Fremder gesehen, der vom jüdischen Glauben abgefallen ist. Also insofern die Toleranz, dass er diejenigen, die ihn diskriminieren, dass er einem solchen hilft, da steckt Toleranz drin. Außerdem Großzügigkeit, er müsste ihm ja auch nicht das Geld noch geben, sondern könnte sagen: Hier, ich geb’ Dich dort ab, kümmere Du Dich, wie Du das bezahlst. Insofern könnte man sagen, die Liebe ist die Form aller Tugenden."

Die Liebe als letztlich die Form von Tugenden ist eine Definition. Als solche wird sie allerdings erst im neuen Testament und in der griechischen Philosophie etabliert. Die jüdische Philosophie dagegen denkt nicht in Begriffen, findet keine Kategorien für das Handeln, sondern nur Bilder und Metaphern. Emmanuel Levinas behauptet, "einem Menschen zu begegnen, heißt, von einem Rätsel wachgehalten zu werden". Oder:

Die Beziehung mit dem Anderen ist weder eine idyllische und harmonische Beziehung der Gemeinschaft, noch eine Sympathie, durch die wir uns als ihm ähnlich erkennen, indem wir uns an die Stelle des anderen setzen, sondern sie ist uns gegenüber außerhalb; das Verhältnis zum anderen ist ein Verhältnis zu einem Geheimnis.

Michael Heinzmann: "Dass das Geheimnis als letzte, unbeantwortbare Frage übrig bleibt, ist gleichsam der Schutz eines jeden vor dem totalitären Zugriff - Levinas sagt das an einer Stelle – letztlich vor dem Töten des Anderen. Wenn ich den Anderen vollkommen erfasse, dann geschieht etwas, das meint, ich reduziere den Menschen, mein Gegenüber auf das Wesentliche. Das Wesentliche aber ist ein Begriff und dieser Begriff hat am einzelnen Sein, am Individuum weder ein Interesse noch einen Zugang."

Levinas zeichnet einen Raum zwischen dem Ich und dem Anderen, man spürt eine ungeheure Distanz, die uneinholbar scheint. Der Nächste, der Andere, ist bei Levinas der "ganz Andere". Diesen ganz Anderen verstehen zu wollen, muss nach Levinas mindestens in ein Missverständnis münden, wenn nicht in eine Anmaßung oder Bemächtigung – Worte, die der jüdische Philosoph natürlich nie verwendet hätte. Bei ihm gibt es kaum bewertende Formulierungen, erst recht keine scharfen moralischen Urteile. Michael Heinzmann:

"Bei Levinas und Buber – ausgehend aus der Tora und der rabbinisch-talmudischen Literatur geht es um das Gewähren. Das bedeutet, es wird hier etwas aufgenommen aus einem Text, der heißt, dass jeder Mensch eine Privatsphäre von vier Ellen hat, und dieser Text ist narrativ und der sagt, dass der Andere sich mir auf diese vier Ellen hin bewegen darf, aber dann stehen bleiben muss. Und erst, wenn ich ihm gewähre, mir näher zu kommen – geistig, körperlich oder wie auch immer – dann darf dieses Hineintreten auch stattfinden. Aber er wird dadurch nicht definiert. Auch diese vier Ellen sind keine Definition, denn sie sind dynamisch durch wiederum das Gewähren, wenn ich den Anderen mir näher zugehen lasse."

Bei Martin Buber finden sich zwei Begriffe, die für das Verhältnis zwischen dem Ich und dem Anderen entscheidend sind: das ICHDU und das ICHES, jeweils in Großbuchstaben, ohne Bindestrich als ein Wort geschrieben: Was ist dieses ICHDU und ICHES?

"ICHES versteht Buber als den Gegenstand, der hinterfragt wird mit Was ist? Das Wort ICHDU meint Buber bei der Frage nach 'Wer' und nicht nach 'Was'. Für ihn ergibt sich daraus eine Konstruktion, die sagt, dass jede Lebendigkeit, die im ICHDU vorhanden ist, in dem Moment, wo sie versachlicht wird, also zum ICHES wird, gleichsam stirbt. Sie wird unbeweglich, sie verliert ihr Leben."

Dieses Denken versteht das Verhältnis zum Anderen als eines, das immer in Bewegung und im Wandel ist. Eine Beziehung, die sich immer wieder ereignet, immer wieder erneuert. Ein Verhältnis, das hofft, dem Nächsten, dem Anderen, dem Fremden, dem, was uns Angst macht, ohne Gesten der Unterwerfung, dafür mit größtmöglicher Toleranz und Achtung zu begegnen – alles Begriffe, die freilich die jüdischen Philosophen nicht verwenden. Denn sie erzählen und entwerfen dabei Bilder. Der Andere: ein Geheimnis, das ICHDU: ein Raum. Michael Heinzmann:

"Bei Martin Buber ist der Nächste ICHDU. Wobei nicht ich und du oder du und ich beschrieben werden, sondern das Zwischen, sozusagen der Orbit, in dem die Beziehung besteht und dann im Wort ICHDU eine Momentaufnahme ist. Bei Levinas ist es dramatischer formuliert. Bei Levinas ist der Andere der, in dessen Geisel ich bin, mit der Hoffnung, dass dieser Andere mich überleben lässt."