Der Moloch

Von Vanessa Fischer · 26.07.2006
Man sagt Metropole, meint aber gleichzeitig Moloch. Berlin. In der größten Stadt Deutschlands leben heißt: Vom Poltern der Müllabfuhr auf dem Kopfsteinpflaster geweckt werden. Den eigenen Müll neben die Tonne stellen, weil er in die überquellende Tonne im Hinterhof nicht mehr hineinpasst. Schleichwege fahren, um den anderen 1,5 Millionen Autos, Kleintransportern und LKWs auszuweichen, die täglich über 5200 Kilometer Straße in der Stadt befahren. Oder: Mit der Masse in und aus öffentlichen Transportmitteln strömen.
Man sagt Metropole, meint aber gleichzeitig Moloch. In der größten Stadt Deutschlands leben heißt: Vom Poltern der Müllabfuhr auf dem Kopfsteinpflaster geweckt werden. Den eigenen Müll neben die Tonne stellen, weil er in die überquellende Tonne im Hinterhof nicht mehr hineinpasst. Schleichwege fahren, um den anderen 1,5 Millionen Autos, Kleintransportern und Lkws auszuweichen, die täglich über 5200 Kilometer Straße in der Stadt befahren.

Oder: Mit der Masse in und aus öffentlichen Transportmitteln strömen. 3,4 Millionen Menschen leben in Berlin. Jeden Tag sind sie unterwegs, arbeiten, verkaufen, kaufen, verbrauchen und werfen weg. Sie sind Teil des Molochs, der nicht aus dem Tritt kommt. Er funktioniert. Die Maschinerie der Großstadt: Ein Durchblick.

890 Quadratkilometer Fläche

Knapp 3,4 Millionen Einwohner

Versorgung - Produktion - Entsorgung - Transport

Arbeitsort - Wohnort - Magnet - Moloch: Berlin

"Herr Schneider, Herr Schneider…"

3.00 Uhr in der Früh. Moabit. Großmarkt.

Befehle, Stapler, Hupe, Rollis

Der Fruchthof: 3000 Quadratmeter Halle. Tonnenweise Ost und Gemüse: Gekarrt, geschleppt, gehieft, verladen.

"Sach mal hast du ne Meise? Die Erdbeeren auf die Erdbeeren - sollen die Druckstellen kriegen!"

"Einwandfreie Ware"
Eine Hundertschaft Männer schwitzt.

"Eigentlich flitzen sie ohne Pause. Und wenn einer Pause macht, dann wird er dazu verdonnert, dass er keine Pause mehr macht. Ja!"

Alle zwei Stunden eine Zigarettenlänge. Die Zeit drängt, die Ware auch. - Die größte Firma wirft heute 70 Tonnen Obst und Gemüse auf den Markt. Das reicht für einen Großteil der Stadt.

3.30 Uhr: Halbzeit.

"Von etwa 45 Touren, die wir fahren, ist die Hälfte jetzt weg auf Frühtouren. Die erste Frühtour fährt um ein Uhr nachts los, weil die Kunden, da sind Krankenhäuser dabei, die wollen pünktlich beliefert werden. Die brauchen ihre Ware früh."

"Also es gibt Kunden, die bestellen bis zu einer Tonne Kartoffeln - wenn man da hinten jetzt die vier Wagen sieht, das ist ganz extrem - das sind zum Beispiel Gefängnisse, die dann so eine große Menge an Kartoffeln abnehmen."

Plastikfolie um Trollis, Umschichten Kartoffelsäcke

Fast alles, was in Berlin gegessen wird, geht hier raus.

Im Minutentakt.

"Potsdamer Platz, Kaisersaal, Spielbank, in die Arkaden, Gellatto - im Prinzip den ganzen Potsdamer Platz."

5.30 Uhr. Charlottenburg. Der Verkehr beginnt. Die Stadtreinigung auch. 4000 Kilometer Dienstfahrt: Ein Mal Berlin-Madrid und zurück. Der Wasserstrahl steht unter Hochdruck.

"Na die Brücken. Weil die deutsche Bahn nicht in der Lage ist, ihre Brücken richtig abzuhängen. Damit der Taubenkot immer schön auf den Bürgersteig fallen kann."

Die Stadt erwacht. 3,4 Millionen Menschen sind zu bewegen.

8.00 Uhr: Bahnhof Friedrichstraße. Regionalzüge, S-Bahnen, U-Bahnen. Ein Drehkreuz.

Alle zwei Minuten ein Zug. 1,2 Millionen Berliner täglich auf dem Weg in die Stadt und raus ins Umland.

Über 1000 Mieter werden auch heute wieder in der Stadt umziehen.

Über 1,2 Millionen Autos schieben sich über Berlins Straßen.

Westhafen: Größter Umschlagplatz für Binnenschiffe. Die defekte Lok wurde ausgetauscht. Der Güterzug rollt endlich in den Hafen.

Ein polnisches Schubschiff wartet seit einer Stunde auf die Ladung. Über 1200 Tonnen Steinkohle, also 25 Wagons. Energie für das Kraftwerk Reuter West.

Zwei Mobilbagger schiffen die Kohle in den Schiffsbunker.

Steinkohle aus Polen macht den größten Teil des Umschlags der Berliner Häfen aus.

Zwei Hafenarbeiter mit Schaufel und Besen sind angerückt.

"Schmutzige Angelegenheit"

Kohle - Wo der Bagger versagt, müssen sie ran.

Fast drei Stunden wird es dauern, bis der 100 Meter lange Schubverband beladen ist.

12.00 Uhr: Neukölln - Das Abfallbehandlungswerk der Stadtreinigung. Gelbe Laster kommen von der Tour zurück. Vor der Rampe wird gewogen. Restmüll aus 1,8 Millionen Berliner Haushalten.

In der großen Halle warten 15 Schlünde auf die neue Ladung.

Rund 3000 Tonnen Restmüll produzieren die Berliner Tag für Tag. Nicht unkapputtbar aber unverwertbar. Ein Teil landet in der Verbrennungsanlage.

Der Rest in einem Betonbunker:

25 Meter tief, 25 Meter breit - 100 Meter lang.

Grau-schwarze, faserige Klumpen. Das Ende aller Reklame aus dem Mülleimer. Beißender Gestank. Dicke Staubpartikel statt Luft.
Selten setzt ein Arbeiter seinen Fuß hier rein.

"Äußerst ungern, ja und wenn denn nur mit Staubmasken und Bekleidung und so. Mal wenn der Betrieb steht. Aber wenn’s nich sein muss, jet hier keener rin."

Draußen rollt der Containerzug ein. Er schiebt sich mitten durch eine Kleingärtner-Kolonie. Zwei Züge bringen 72 Container gepressten Mülls auf die Deponien - die liegen vor der Stadt.

"Wir sind die größte Stadt, wir haben eine Million Tonnen Restmüll. Also das ist schon ein großes logistisches Unternehmen, das wir da machen. Wir haben 250 Touren am Tag, die Müll abfahren. Andere Städte kommen mit 10 bis 20 Touren aus. Also einfach die Dimension ist im Vergleich zu anderen Städten ziemlich groß."

"Marquart mein Name, neue Störung. Na wenn die emsig mit dem Bagger fahren...et jet nach Pankow. ... "

Von Schöneberg: Die Netzwarte des Stromversorgers Bewag - Mitten in der Stadt. Ein Hochsicherheitstrakt.

Eine Baufirma hat beim Buddeln wieder mal ein Stromkabel beschädigt. Der Stördienst muss ran.

Fünf Männer sitzen vor einer Kinoleinwand großen Tafel. Orangefarbene Punkte leuchten zwischen einem Netz aus feinen Linien auf. Die Stromproduktion aller Berliner Kraftwerke wird hier kontrolliert. Der Strom verteilt. Der Verbrauch steuert auf die Tagesspitze zu.

"Es gibt einen typischen Berliner Lastenverlauf. Und den haben wir mit einer Abendspitze im Winter und im Sommer haben keine Abendspitze, sondern nur eine Mittagsspitze etwa gegen 12./13.Uhr Dort sind Hausfrauen, die Menschen in den Fabriken intensiv beschäftigt. Es wird gekocht, es werden stromstarke Verbraucher in Betrieb genommen."

U-Bahnhof Kottbusser Tor. Untere Ebene

Vor dem Kiosk.

"Lass ihn Los, eh, die Bullen, hilfst te mir ma bitte?"

Zwei Polizisten tauchen auf. Einer von über 1900 Funkwageneinsätzen. Ebenfalls täglich.

Rolltreppe zum oberen Gleis. - Kinder auf dem Schulweg: Über 350.000.

Unfälle im Straßenverkehr : Rund 370

"Das hier is jetzt ne Woche alt."

Schöneberg, gegen Mittag. Der Altkleidercontainer ist rappelvoll. Hosen, Jacken, Pullis - Lumpen.

Handy klingelt: "Warte mal ick gib dir mal Egon..."

Egon ist der Chef.

Kastner: "Haufenweise Müll, Fleisch, Wurst, leere Getränkeverpackungen, wirklich sehr viel Müll."
Grahl: "Sogar lebende Tiere, Meerschweinchen werfen die Leute hier rein."
Kastner: "Hasen, Pferdebeene, ja und die Spritzen haben wir dann in der Kursfürstenstraße. Da zieh ick mir dann och Handschuhe an und pass uf wien Luchs. Na zum Glück is ja noch nischt passiert wa Grahl? Glück jehabt."
18 Säcke Müll hat er heute schon gefüllt.

Über 1000 Container betreibt das Deutsche Rote Kreuz in der Stadt. In Berlin macht das besonders viel Arbeit.

"So wie ich das gehört habe, ist es bei uns extrem der Anfall an Müll und auch der Beschädigungen der Behälter. Ja die werden angezündet und beschmiert, vor allem Graffiti-Schmierereien. Die machen uns die Hauptsorge, so dass wir also wöchentlich ständig Behälter auswechseln müssen Damit wir das Stadtbild einigermaßen erhalten. Aber es hat keinen Zweck, wir stellen heute einen hin der is morgen wieder beschmiert."

18 Tonnen Altkleider sammeln die Fahrer in 24 Stunden ein. Ein kleiner Teil bleibt für Bedürftige in der Stadt. Das meiste geht nach Bitterfeld. In die größte Textilrecyclinganlage Europas. Was gut in Schuss ist, wird verkauft. Auch schon mal von anderen:
"Da gibt es spezialisierte Gangs, die ausgerüstet sind mit schlanken Personen, die sie oben einsteigen lassen und die das Zeug rausheben. Ne und dann wird’s verladen, ne is so. Und die Nähe der Staatsgrenze macht das in Berlin sehr einfach, relativ schnell wegzukommen.
Mit der Ware und die in Polen oder Russland zu veräuseln. Das ist das Problem in Berlin."

"Det hab ick doch richtig gerochen. Voll - ick sach ma uriniert."

Eine verkeimte Babymatratze. Die kommt auch noch mit. Der LKW ist bis unter die Decke voll.

"So auf zum letzten."

15 Uhr. Charlottenburg. Westhafenkanal - kurz vor der Schleuse. Der polnische Schubverband ist auf dem Weg zum größten Berliner Kraftwerk. Reuter West.

Der Kahn ächtzt. Qualm von der Dieselmaschine zieht ab. Genau neben der Wäscheleine mit den Regenjacken.

"Bizon 54 - ich brauche die Namen..."

Auf der Brücke

"So und jetzt noch mal die Tonnage.
Einmal 455…"

900 Tonnen Kohle drücken das Schiff ins Wasser. Ein Fingerbreit zwischen Wasser und Deck.

Am Spreeufer: Kleingärtnerkolonien.

Der Brennkessel im Kraftwerk frisst die Kohle Tag und Nacht. 5500 Tonnen Steinkohle und noch mal so viel Braunkohle werden täglich in den Berliner Kraftwerken verbrannt.
13 an der Zahl. Sie erzeugen Strom und Wärme gleichzeitig. Ein Berliner muss im Schnitt nur alle fünf Jahre mit einem Stromausfall rechnen.

Später Nachmittag. Dreilinden: Autobahnausfahrt. Stadtgrenze. Der Zoll hat zu tun.

"Und zwar würde ich würde gerne Herrn Nowatschek sprechen. Ihre Ware geht nach Serbien, die ist nicht EU1 tauglich..."

Der Parkplatz füllt sich. Stoßzeit beim Zoll.

"Sie müssen sich die Vielzahl, die Massen vorstellen, die da rausgehen. Nicht nur aus dem Berliner Raum. Alle möglichen Handelsgüter wirklich. Von Aalräuchereien bis Zylinderstifte, et is wirklich so."

"Der hat schon einen T5, lass die dranne bitte, ja?"

Bis zu 300 Abfertigungen am Tag. Plombe rauf und weg.
Die meiste Ware geht Richtung Osten. Besonders gefragt: Handys. Kontrolle bei einem Kleinlaster.

"So die zweite is ja (nur) det Samsung, 25 Stück, ok. Zusammen über 10.000 Euro. Der Weißrussische und der Ukrainische Markt die haben einen Heißhunger uf diese Jerete."

Der Nächste.

"Ok det sieht recht ordentlich aus... Das war jetzt eine Prüfung der Fahrgestellnummer bei einem Ferrari, gebraucht von einer renommierten Berliner Firma. In diesem Fall ein Warenwert von 123.000 Euro. Der wird dann aber nicht auf eigener Achse durch die kurdisische Steppe reiten, sondern wird verladen. Damit der Besitzer mit Sitz in der Moskauer Region sich dann auch an seinem Auto erfreuen kann. Ok, allet klar.... schönes Stück."

Der russische Fahrer hat es eilig. Der Wagen muss heute noch weg.

"Geheim, darf ich nicht sagen, in Deutschland wird er verladen, komplett geschlossen. Damit nicht viele sehen. Denn leider haben wir noch Arm und Reiche. Und Reich machen Arm sehr Neid. - Schade."

""Det war wirklich mal ne Rarität, normalerweise sind die Autos wesentlich älter und verrosteter. Die können dann auch durch die Steppe reiten. Das macht dann auch nichts. Jet wat kaputt, kommen die Ersatzteile schnell hinterher und dann wir wieder zusammengebaut. "

Berlin
890 Quadratkilometer Fläche
Knapp 3,4 Millionen Einwohner
Versorgung - Produktion - Entsorgung- Transport
Arbeitsort - Wohnort - Magnet - Moloch: Berlin