Der Mann hinter der Lindenstraße

Von Sarah Tschernigow · 07.12.2010
Als am 8. Dezember 1985 die erste Folge Lindenstraße im Deutschen Fernsehen läuft, geht ein Aufschrei durch die Republik: der Untergang des Fernsehens! Es hagelte bitterböse Kritik. Aber der Erfinder Hans Geißendörfer wusste genau, warum er die Serie macht.
Ein Jahr, länger nicht. So der Plan von Hans Wilhelm Geißendörfer, als er die Lindenstraße 1985 ins Deutsche Fernsehen bringt. 25 Jahre und 1306 Folgen später hat der Erfinder der Kultserie keine Zeit für sentimentale Rückblicke; er ist immer noch dick im Geschäft. Der Produzent wird nächstes Jahr 70, ans Aufhören denkt er noch lange nicht.

"Es gibt einfach nichts Schöneres als Filme zu machen, Geschichten auszudenken, produzieren, Leute zusammen zubringen und Lindenstraße zu machen. Lindenstraße ist 50 Prozent meiner Arbeit. Und ich mach das noch immer sehr, sehr gern."

Hans Geißendörfer schafft es vermutlich nur mit dieser guten Prise Gelassenheit, nicht die Lust am Fernsehen zu verlieren. Schließlich wird seine Serie in den Anfangszeiten bitterböse verrissen. Der Spiegel nennt sie ein "Panoptikum der Piefigkeit", die BILD-Zeitung beglückwünscht die Konkurrenzsender, woraufhin der Erfinder seine heulenden Mitarbeiter trösten und überreden muss weiterzumachen. Die eigenen Nerven beruhigt er bis zu seinem 50. Lebensjahr mit Kaffee und Zigaretten – bis zu 70 Stück raucht er am Tag. Dann hört er von heute auf morgen auf.

"Im Studio beim Drehen ist man natürlich unter starkem Druck. Und da hatte ich meinen eigenen Feuerwehrmann, der lief ständig hinter mir her mit einem Wassereimer."

Was sich Hans Geißendörfer jedoch nie mehr abgewöhnen möchte ist seine Wollmütze zu tragen. Sie ist etwas klein geraten, aber passt zu dem rundlichen Mann, der auch wie selbstverständlich ein fliederfarbenes Tüchlein zur rockigen Lederweste kombiniert. Der Kopf kann nur in der Nacht durchatmen, erzählt Geißendörfer, und auch nur, weil die Mütze beim Schlafen runterfallen würde.

"Als Kind war ich sehr stark mit Nebenhöhlenkatharen gequält. Und da hat der Arzt gesagt ich soll eine Mütze tragen. Das wärmt. Erst hatte ich so eine Kapitänsmütze, die ist mir dann in Mexiko bei einem Filmdreh regelrecht vom Kopf gefault, die konnten wir nicht mehr flicken. Und dann kam "Einer flog übers Kuckucksnest", und da bin ich auf Wollmütze umgestiegen."

Das ist nur die halbe Wahrheit, wie der Filmemacher erklärt. Die zweite Hälfte lautet: Halbglatze mit 20.

Hans Geißendörfer kann gut über sich selbst lachen, ist ein ruhiger Mensch, der gerne Anekdoten von früher erzählt. Auf Fotos wirkt er ganz anders, irgendwie roh, weil er immer ernst guckt. Eine Eitelkeit. Er findet, dass er nicht gut aussieht wenn er lacht. Davon abgesehen ist der 69-jährige sehr uneitel; findet es auch nicht schlimm, dass er von den meisten nur als der "Lindenstraßen-Mann" wahrgenommen wird. Dabei hat er auch zahlreiche Filme gedreht, darunter den "Zauberberg" von Thomas Mann. Einmal war er sogar für den Oscar nominiert. Es stört ihn nicht, dass die Lindenstraße für seichte Fernsehunterhaltung steht.

"Das Triviale hat seine absolute Berechtigung. Man braucht vielleicht auch als Geißendörfer etwas Mut Trivialgeschichten zu produzieren ... natürlich achten wir dabei auf ein bestimmtes Niveau, und die Lindenstraße hat ein bestimmtes Niveau, das sie nie unterschritten hat."

Auf den zweiten Blick ist seine Serie durchaus gesellschaftspolitisch. Hier wird der erste homosexuelle Kuss des Deutschen Fernsehens gezeigt, unverblümt über HIV und Sterbehilfe gesprochen und politische Kritik geübt. In den 90er-Jahren stattet das Filmteam dem damaligen Umweltminister Klaus Töpfer einen unangekündigter Besuch ab – im wirklichen Leben UND auf Sendung.

"Benni Beimer hat innerhalb der Lindenstraße eine Aktion gegen Atom organisiert, mit einer wirklich existierenden Organisation, Robin Wood. Und zusammen haben die ein Atommeilermodell auf einen Lastwagen gepackt, das spuckte Tennisbälle aus, das war das Gift. Und dieses Modell haben die in den Vorgarten von dem Töpfer gestellt. In echt. Und gleichzeitig haben wir dafür gesorgt, dass es eine Nachricht wurde, und gleichzeitig lief es in der Lindenstraße."

Für diese Aktion muss Hans Geißendörfer vor dem WDR-Intendanten Rechenschaft ablegen, denn die Folge wurde so natürlich ohne offizielle Zustimmung gedreht.
Je mehr Geißendörfer kritisiert und in die Mangel genommen wird, desto stärker wird sein Trotz:

"Da ist die BILD Zeitung schon tot bevor wir sterben."

Das große Potenzial einer Seifenoper ist ihm längst bekannt – schließlich schaut er sich das Konzept aus England ab: "Coronation Street" läuft dort seit 1960 erfolgreich. Und die Lindenstraße gibt es nur, weil seine Freundin Jane, seine heutige Frau, ihn in den frühen Achtzigern dazu zwingt ihre englische Lieblingsserie mitzugucken. Seine Meinung darüber war ... sagen wir bescheiden.

"Wer guckt denn Serien?! Fernsehen?? Ich bin Filmemacher!"

Mit den Alltagserlebnissen, dargestellt in der Endlosserie Lindenstraße, kann fast jeder etwas anfangen. Auch das Privatleben von Hans Geißendörfer zeichnet sich mehr durch angenehme Alltäglichkeiten als durch große Paukenschläge aus. Er ist ein Familienmensch, hat drei Töchter, trifft sich gerne mit Freunden, geht oft essen. Das Fernsehen spielt zuhause in Köln nahezu keine Rolle. Im Hause Geißendörfer bleibt die Flimmerkiste aus.

"Es ist einfach zu Zeit fressend. Sie haben keine Zeit."