Der letzte Persilschein

Von Dieter Wulf · 12.11.2010
Eine Studie über die Mitarbeiter des Auswärtigen Amtes und ihre Nazi-Vergangenheit hat jüngst große mediale Aufmerksamkeit erregt. Dabei war schon lange bekannt, dass das Amt - wie andere Ministerien auch - Teil des nationalsozialistischen Systems war.
"Die Vergangenheit ist nicht tot, sie ist nicht einmal vergangen."

Mit diesem Zitat des amerikanischen Schriftstellers William Falkner begann der ehemalige Außenminister Frank-Walter Steinmeier in der vergangenen Woche seine Rede anlässlich der Buchveröffentlichung über die Rolle des Auswärtigen Amtes im Dritten Reich.

Und tatsächlich behandelt die jetzt vorgelegte sehr umfangreiche Studie nicht nur die Zeit vor und während des Krieges, sondern genauso die Jahrzehnte nach dem Krieg. Darin werden im Detail die Mechanismen nachgezeichnet, wie viele Diplomaten, die während des Krieges aktiv am Holocaust beteiligt waren, sich nach dem Krieg gegenseitig weißwuschen. Ein Prozess, der offensichtlich bis heute andauert.

Der Auslöser für diese Studie war nämlich eine Kontroverse über die Praxis der Nachrufe verstorbener Mitarbeiter in der hausinternen Zeitschrift des Auswärtigen Amtes. Der damalige Minister Joschka Fischer verfügte schließlich 2005, dass in Zukunft prinzipiell auf ehrende Nachrufe verstorbener Mitarbeiter zu verzichten sei, wenn sie Mitglieder der NSDAP gewesen waren.

Das aber löste unter den Diplomaten einen Sturm der Entrüstung aus. Wie konnte man den geschätzten Kollegen diese letzte Ehre verweigern. Dass es dagegen einen solchen Widerstand geben würde, habe auch er lange nicht verstanden, betonte Joschka Fischer bei der Buchpräsentation:

"Warum legt eine solche Generation einen solchen Wert auf einen Nachruf im amtsinternen Blättchen des AA, ich hatte es lange nicht verstanden, worin liegt die Bedeutung in diesem Blättchen einen Nachruf zu bekommen?"

Mittlerweile aber, so Joschka Fischer, sei ihm klar geworden, worum es eigentlich ging:

"Heute weiß ich es. Offensichtlich geht es hier um den letzten über den Tod hinausgehenden Persilschein."

Aufgrund dieser Kontroverse setzte Minister Fischer schließlich eine unabhängige Historikerkommission ein, die jetzt ihre Ergebnisse in dem viel beachteten Buch "Das Amt und die Vergangenheit" vorlegte. Überall wurden die nun vorliegenden Materialien in den Medien als neue Enthüllungen gefeiert. Das meiste aber sei doch seit Jahrzehnten bekannt gewesen, meint der israelische Historiker Moshe Zimmermann, einer der Autoren des Buches:

"Das Einzige, was vielleicht überraschend ist oder worüber man sich wundert, ist die Reaktion in den Medien, also die Medien sind irgendwie überrascht von einer Information, die schon lange vorlag. Dass das Auswärtige Amt genauso wie andere Ministerien ein Teil des Systems war, kann niemanden verwundern."

Tatsächlich hatte der amerikanische Historiker Christopher Browning bereits 1987 über das Judenreferat des Auswärtigen Amtes geschrieben und auch der deutsche Historiker Hans-Jürgen Döscher legte eine umfangreiche Studie über die Rolle der Nazi-Diplomaten vor. Aber diese Fakten wurden jahrzehntelang einfach ignoriert, erinnert sich Joschka Fischer:

"Das gehört mit in die Geschichte des Schön-Malens, in die Geschichte der Verzerrung, Veränderung. Ich habe es noch erlebt im Amt, diese Marginalisierungsversuche, die aufgingen. Döscher wissenschaftlich fragwürdig, eine randständige Meinung - kommen sie mir nicht mit dem."

Obwohl den Historikern viele Fakten längst bekannt waren, konnte das Auswärtige Amt noch jahrzehntelang den Mythos als eigentlich unpolitische, unbeteiligte Behörde aufrechterhalten, meint Moshe Zimmermann:

"Da haben wir es mit etwas zu tun, was doch zum Kern der Sache gehört. Wenn man einen Mythos schafft, ist es sehr schwer, den Mythos wieder abzuschaffen. Und auch wenn man mit Fakten und auch mit Erkenntnissen und mit Dokumenten agiert, reicht das nicht aus, um den Mythos abzuschaffen. Der Mythos von der sauberen Wehrmacht oder der Mythos vom sauberen Auswärtigen Amt oder der Mythos vom sauberen Fußballbund, das zu zerstören ist sehr schwierig. Das zeigt, dass die Leute wenn sie sich mit Geschichte auseinandersetzen, wenig auf Fakten achten als auf Vorstellungen, Vorurteile und Images."

Aber diese Geschichtsvergessenheit sieht Moshe Zimmermann, der das Zentrum für Deutschstudien an der Hebräischen Universität in Jerusalem leitet, nicht nur in Deutschland, sondern auch in Israel:

"Da ist es eigentlich erstaunlich, dass Israel nicht auf der Hut war. Man hat sich um Eichmann gekümmert und da dachte man, okay, damit haben wir die Aufarbeitung der Geschichte erledigt. Also wir haben den Bösewicht erwischt vor Gericht gestellt, hingerichtet, Punkt."

So wurde auch in Israel nicht wirklich nachgeforscht, zum Beispiel als Rolf Pauls 1965 als erster deutscher Botschafter nach Israel entsandt wurde. Schließlich war er Träger des Ritterkreuzes und hatte im Krieg als Wehrmachts-Major gedient. Auch in Israel, so Moshe Zimmermann, funktionierte eben der Mythos der weitgehend sauberen Wehrmacht:

"Also da waren Vorkenntnisse, da waren auch Jeckes im israelischen Auswärtigen Amt, aber zu einer kritischen Masse ist es nicht gekommen und soweit vorgedrungen zum allgemeinen Bewusstsein. Wir haben hier ein Problem, wir müssen uns damit systematisch befassen, dazu kam es nicht."

So konnte auch ein Franz Rademacher, der Leiter des Judenreferats im nationalsozialistischen Auswärtigen Amt, der persönlich aktiv am Holocaust beteiligt war, in Deutschland bis zu seinem Tod 1973 weitgehend unbehelligt leben. Nach dem Eichmann-Prozess aber habe man sich auch in Israel mit solchen Biografien nicht mehr wirklich befassten wollen, kritisiert Moshe Zimmermann:

"Eigentlich hätte ich erwartet dass Israel eine Behörde schafft zur Verfolgung der ehemaligen Nazis. Nicht, wo man jüdische Kapos in Israel suchte, um die vor Gericht zu stellen, sondern in Deutschland oder in der Welt - das was Wiesenthal gemacht hat, etwas ähnliches, das hat Israel versäumt."
Mehr zum Thema