Der letzte Kanzelfürst

Von Andreas Malessa · 06.12.2008
Seine Predigten zogen Tausende Zuhörer in ihren Bann, die Kernsätze standen montags in der Zeitung. Helmut Thielicke wäre am 4. Dezember 2008 hundert Jahre alt geworden. Kurz vor seinem Tod 1986 veröffentlichte der evangelische Theologe seine Autobiografie "Zu Gast auf einem schönen Stern", die 2007 neu aufgelegt wurde.
Helmut Thielicke: "Gott ist ja nicht nur ein Faktor unserer inneren Erbauung, sondern er ist der Herr der Welt und also eine öffentliche Autorität. So muss die Kirche zum Beispiel angesichts bestimmter Maßnahmen in einem totalen Staat bezeugen, dass hier dem Menschen die Würde des Geschöpfes Gottes genommen wird und dass man die Gewissen vergewaltigt. Das ist aber etwas völlig anderes als eine politische Beratung oder eine politische Intervention."

Der evangelische Theologe Helmut Thielicke hat die Aufgabe und die Grenze kirchlicher Einmischung ins politische Tagesgeschäft Zeit seines Lebens klar gesehen. Im Namen Gottes Werte bezeugen, ohne zu allem und jedem sofort was sagen zu können - diesen Spagat hat der "Kanzelfürst", wie man ihn nannte, von der Weimarer Republik über die NS-Diktatur bis in die junge Bundesrepublik hinein selbstkritisch durchgehalten.

"Wir Christen haben bei dieser Aufgabe freilich immer wieder versagt. Aber ich glaube aussprechen zu dürfen: Die Kirche ist sich hier ihrer Pflichten ganz neu bewusst geworden. Sie wendet sehr viel Liebe, Leidenschaft und organisatorische Mühe an die Aufgabe, auch im öffentlichen Leben die Gewissen zu schärfen."

Helmut Thielicke, geboren am 4. Dezember 1908 als Sohn eines fabulierfreudigen Dorfschullehrers und einer puritanisch-pietistischen Mutter, wächst in der Jugendgruppe jener "Gemarker Kirche" in Wuppertal-Barmen auf, die 1934 zum Schauplatz der "Barmer Bekenntnis-Synode" gegen die Nazis werden sollte.

Durch den Kunstfehler bei einer Schilddrüsenoperation schwebt der junge Theologiestudent an der Uni Greifswald jahrelang zwischen Leben und Tod, wird in Hörsälen und Labors zu qualvollen Menschenversuchen missbraucht und "aufersteht" ausgerechnet am Karfreitag 1933 durch ein neues, lebensrettendes Medikament. Mit 25 schreibt er seine Doktorarbeit in Erlangen über "Das Verhältnis von Vernunft und Offenbarung bei Gotthold Ephraim Lessing" und macht eine ebenso beschämende wie entscheidende Entdeckung:

"Das Neuheidentum des Dritten Reiches war für mich nur die gigantische Projektion und Objektivierung dessen, was auch meine Seele unablässig hervorzubringen imstande wäre. Die braune Ideologie besaß einen Brückenkopf in mir und ich konnte sie nur überwinden, indem ich der Anfechtung standhielt. Ich begriff Theologie plötzlich als ein Selbstgespräch des natürlichen mit dem geistlichen Menschen in mir."

Helmut Thielicke heiratet 1937 und bekommt eine Grußkarte "Gottes Segen zur Hochzeit, Ihre Gestapo". Wenige Jahre später schreiben dieselben Herren: Der Führer erwarte von jungen Ehepaaren viele Kinder zwecks Fortbestand der nordischen Rasse, weshalb die bisherige Kinderlosigkeit seiner Frau Liesel nicht ohne berufliche Konsequenzen für ihn bleiben könne….

Thielicke wird trotzdem Professor für Ethik an der Uni Heidelberg, stößt durch Carl Goerdeler zum Freiburger Kreis der Mitverschwörer gegen Hitler, wird 1940 gewaltsam aus dem Lehramt entfernt und mit Rede- und Reiseverbot belegt, aber: Anders als Goerdeler oder Bonhoeffer überlebt er den Rachefeldzug der Nazis nach dem 20. Juli 1944.

Der württembergische Bischof Wurm "parkt" ihn als Pfarrer in kleinen Landgemeinden am Bodensee und im Stuttgarter Raum, und hier beginnt Thielickes Popularität als Prediger. Da es verboten war, seinen Namen auch nur zu erwähnen, genügte die Kleinanzeige in der "Stuttgarter Zeitung": "T.: Donnerstag halb acht" und Tausende strömten in die Stiftskirche.

Ein junger HJ-Führer wurde an einem solchen späten Donnerstagabend von der Polizeistreife gefragt, woher er jetzt komme. "Aus der Stiftskirche, Herr Wachtmeister.". Der reagierte ärgerlich: :"Es ist eines HJ-Führers unwürdig, zum Thielicke zu gehen Ich verbiete Dir jeden weiteren Besuch dort!" Daraufhin riss der Junge seine Schulterstücke vom Braunhemd: "Dann verzichte ich lieber und gehe trotzdem!"

Zu den bewegendsten Kapiteln seiner Autobiografie "Zu Gast auf einem schönen Stern" gehört die Beschreibung des völligen Untergangs Stuttgarts am 26. Juli 1944 sowie sein bisweilen schlitzohriger Widerstand gegen unsinnige Besatzer-Regeln und den aus seiner Sicht ebenso naiven wie grobschlächtig-ungerechten Prozess der "Entnazifizierung". Thielicke begegnet Karl Heim, Carlo Schmid, Romano Guardini und zahllosen anderen "Großen" der Theologie des 20. Jahrhunderts.

Er überwirft sich mit Martin Niemöller, er mitbegründet die Evangelischen Akademien, wird Rektor der Universität Tübingen und gründet 1954 die Theologische Fakultät der Universität Hamburg. Vor der Wahrzeichen-Kirche Hamburgs, dem "Hamburger Michel", stehen Tausende schon eine Stunde vor dem Gottesdienst Schlange, wenn Helmut Thielicke predigt. Was ihn zur Zielscheibe der 68er-Studentenrevolutionäre macht:

"Bei den Pöbeleien in der Universität konnte ich massiv und ironisch reagieren, aber im Gottesdienst, im Talar, auf der Kanzel? Die Studententumulte in der Michaeliskirche lösten einen Pressewirbel aus, der bis in den Bundestag reichte und mit der Legende im "Spiegel" begann, ich hätte 70 Bundeswehroffiziere als freiwillige Reserve zu Hilfe gerufen. Das alles verursachte einen gefährlichen Erschöpfungs-zustand bei mir, so dass ich einige Wochen in der Eppendorfer Klinik verbrachte."

Der stets warmherzig-zuversichtliche Protestant aus dem Bergischen Land, in Tübingen auf Händen getragen in einer akademischen Atmosphäre, wird einerseits das tragisch missverstandene Opfer der 68er-Studentenrevolte, teilt andererseits aber viele ihrer politischen Anliegen. Vielleicht ja deshalb endet Helmut Thielickes Autobiografie "Zu Gast auf einem schönen Stern" etwas enttäuschend.

Geschrieben 1983, greift sie weder die "bleierne Zeit" des RAF-Terrors von 1977 noch die Friedens- und Ökologiedebatte der frühen 80er-Jahre auf. Helmut Thielicke starb am 5. März 1986 in Hamburg. Trotz seiner vierbändigen Ethik und populärer Standwerke wie "Das Schweigen Gottes", "Das Gebet, das die Welt umspannt" oder "Mensch sein - Mensch werden" ist Helmut Thielicke nie so "berühmt" geworden wie seine Freunde Karl Barth und Paul Tillich, auch nicht so "medienpräsent" wie seine Zeitgenossen Dorothee Sölle und Jörg Zink.

Eine Lücke aber ist nach seinem Tod nie wieder geschlossen worden in der Evangelischen Kirche Deutschlands: Die des theologisch und rhetorisch brillanten seelsorglich engagierten Kanzelpredigers, der breite Massen in die Gottesdienste zieht.