Der leere Stuhl von Oslo

Albrecht Breitschuh und Ruth Kirchner im Gespräch mit Ulrike Timm · 10.12.2010
Es ist nicht das erste Mal, dass der Preisträger in Oslo fehlt. Auch die Absage von 19 Staaten ist nicht der diplomatische Triumph, den chinesische Medien jetzt behaupten. Peking versucht aber mit aller Macht, die Bilder aus Oslo zu unterdrücken.
Ulrike Timm: In zwei Stunden werden wir in Oslo erleben, wie man den Friedensnobelpreis ohne anwesenden Friedensnobelpreisträger verleiht. Mit dem Regimekritiker Liu Xiaobo hat man nach chinesischer Auffassung ja einen Kriminellen gewählt. Die Peinlichkeit, dem eigenen Volk zu vermitteln, dass der langersehnte erste Nobelpreis für China an einen Kriminellen geht, hat die Machthaber in Peking ganze Arbeit leisten lassen. Liu Xiaobo sitzt weiter im Gefängnis, seine Frau hat Hausarrest, und bei den Intellektuellen hat Peking die Daumenschrauben angezogen: Kaum jemand darf ausreisen und es gibt seit Wochen viele, viele Überprüfungen. Albrecht Breitschuh ist unser Korrespondent in Oslo: Was macht man denn da jetzt, wie wird die Zeremonie denn jetzt ablaufen?

Albrecht Breitschuh: Ja, das Fehlen von Liu Xiaobo wird symbolisiert durch einen leeren Stuhl, der steht auf dem Podium. Auf diesem Podiumsstuhl sitzen sonst immer die Preisträger, der bleibt also leer. Und das ist natürlich schon ein Bild, das um die Welt gehen wird und das keiner großen Interpretationen mehr bedarf. Dann wird einer seiner wichtigsten Texte, wie es hieß, vorgelesen von Liv Ullmann, der norwegischen Schauspielerin. Und dann wird ein Kinderchor singen, der Chor der Osloer Staatsoper. Das war ein ausdrücklicher Wunsch Lius. Die Frau von ihm hatte ihn ja im Gefängnis besucht und daraufhin das Osloer Komitee mit diesem Wunsch konfrontiert, und dem ist man natürlich gerne nachgekommen.

Es wird weitere musikalische Vorträge geben, also insgesamt eine sehr feierliche Veranstaltung, wie gewöhnlich – wie gewöhnlich übrigens natürlich auch im Beisein des Königspaares. Was nicht ganz so gewöhnlich ist, ist a) die Tatsache natürlich, dass der Preisträger nicht dabei ist und dass insgesamt 19 Botschafter der hier insgesamt 64 in Oslo stationierten Botschafter nicht dabei sind, das Ganze eben auf Druck Chinas. Die hatten also immer wieder darauf hingewiesen, wenn euch was an einem guten Verhältnis mit China gelegen ist, dann nehmt nicht daran teil. Und Länder wie Russland unter anderem – das überrascht dann doch ein wenig – nehmen nicht teil. Dann natürlich bei einigen Ländern hatte man damit gerechnet: Nordkorea, Saudi-Arabien, Iran, also nicht gerade das Tafelsilber der Demokratie, aber auch Länder wie Serbien, da hat es auch innerhalb der EU ja Kontroversen gegeben. Serbien angeblich, um sich noch einmal, wenn man so will, erkenntlich dafür zu zeigen, dass China auch gegen ein unabhängiges Kosovo gekämpft hat. Also es ist schon eine merkwürdige Gemengelage hier.

Timm: Das ist ja in vielerlei Beziehung merkwürdig: Der norwegische König wird seine Blümchen nicht los, die Urkunde muss man irgendwo hinschicken trotz leeren Stuhls, und wenn sich 19 Staaten entschlossen haben, nicht zu kommen, bleiben dann noch mehr Stühle leer oder nimmt man die dezent vorher raus?

Breitschuh: Nein, man lädt dezent andere Leute ein. Also es gibt Interessenten genug für eine solche Feier, da gibt es überhaupt keine Probleme. Es ist übrigens auch gar nicht so ungewöhnlich, dass Botschafter der Einladung nicht nachkommen. 2003, Martti Ahtisaari, der finnische Sonderbotschafter fürs Kosovo, für uns eigentlich ein ganz unverdächtiger Preisträger – auch damals sind zehn Botschafter nicht gekommen, also so ganz ungewöhnlich ist das nun wieder auch nicht.

Timm: Wenn man mal in die Geschichte des Friedensnobelpreises guckt, gab es das schon mal: Friedensnobelpreis wird vergeben, Preisträger ist nicht da?

Breitschuh: Oh ja, das gab es. Geir Lundestad, der Direktor des Nobelinstituts, wies gestern darauf hin, dass zum fünften Mal eben aus politischen Gründen ein Preisträger nicht kommen kann. Das war 1935 Carl von Ossietzky, das war 75 Andrei Sacharow, dann acht Jahre später Lech Walesa und 1991, wiederum acht Jahre später, Aung San Suu Kyi, nun als Liu Xiaobo. Bei Liu Xiaobo und Carl von Ossietzky ist es so, dass der Preis nicht verteilt werden kann in Abwesenheit, weil auch keine Vertrauensperson da war. Bei Ossietzky war der Fall vielleicht noch ein bisschen anders, damals hatte sich ein Anwalt von ihm gemeldet, ein vermeintlicher. Er hat dann das Geld eingesteckt und ist verschwunden, also ein klassischer Betrüger, dem man damals aufgesessen war – das wollte man natürlich unbedingt vermeiden. Es hat sich also keine Vertrauensperson gefunden, die ausreisen durfte.

Timm: Das hat ja dann zumindest auch noch die Sowjetunion zustande gebracht: Als Solschenizyn und Sacharow den Preis bekommen sollten, da kam immer noch ein Vertreter. Hofft man in Norwegen eventuell, dass in letzter Minute vielleicht doch noch jemand kommt und der den Preis offiziell dann für Liu Xiaobo entgegennimmt, oder ist diese Chance jetzt vollkommen abgefahren?

Breitschuh: Ich halte sie für gleich null. Das wäre natürlich eine Riesensensation, aber gestern haben Thorbjörn Jagland, Sprecher des Komitees, und der gerade von mir erwähnte Geir Lundestad, also der Direktor des Nobelinstituts, der Presse ausführliche Auskunft erteilt, wie es heute, also in wenigen Augenblicken, um 13 Uhr abgehen wird, und da war von keiner Person die Rede, auch auf mehrfache Nachfrage. Also das wäre eine ziemliche Überraschung.

Timm: Albrecht Breitschuh, wir sind gespannt, wie Sie uns weiter auf dem Laufenden halten über diese skurrile Friedensnobelpreis-Zeremonie, die um die Welt gehen wird, wie vielleicht keine vor ihr. – Ruth Kirchner ist in Peking und uns jetzt zugeschaltet. Guten Tag, Frau Kirchner!

Ruth Kirchner: Guten Tag!

Timm: Frau Kirchner, ein leerer Stuhl, das ist ja jetzt ganz unfreiwillig eines der stärksten Bilder, die man überhaupt haben kann. Dieser leere Stuhl wird sich doch in China nicht unterdrücken lassen 2010, dieses Bild vom leeren Stuhl – wie sieht es damit aus?

Kirchner: Nun, zum einen versucht man, alle Bilder aus Oslo zu unterdrücken. Wenn Sie hier heute oder auch gestern schon die BBC einschalten, sobald die Rede auf Liu Xiaobo und den Friedensnobelpreis kommt, da werden die Bildschirme schwarz, im staatlichen Fernsehen wird überhaupt nicht darüber berichtet. Auch mehrere Internetseiten, insbesondere von internationalen Medien, sind ja neuerdings blockiert. Also man will wirklich verhindern, dass Bilder vom leeren Stuhl nach China kommen. Aber im Internet regt sich dann doch ein bisschen Widerstand. Das ist gar nicht so einfach, weil wenn man da Kommentare zu Liu Xiaobo abgibt, dann ruft das ganz schnell die Zensoren auf den Plan.

Wenn man aber sich zum leeren Stuhl äußert, dann geht das unter Umständen, und da gibt es durchaus Leute, die sagen, man werde heute Abend beim Essen einen Stuhl freilassen. Warum ist der Stuhl leer?, heißt es in einem anderen Eintrag – weil sich das chinesische Volk erhebt. Also man will damit deutlich machen, dass man eben doch gegen die Haltung der chinesischen Regierung da ein bisschen protestiert. Das sind nicht viele Einträge, das sind teilweise Einträge auf Twitter, diesem Kurznachrichtendienst, der hier geblockt ist, aber wo man dann eine Tunnelverbindung braucht, um das lesen zu können. Aber es gibt da das eine oder andere, wo eben der leere Stuhl dann doch nach China wieder zurückkommt.

Timm: Die chinesische Presse hat ja gestern noch konstatiert, dass das kleine Volk der Norweger und sein Komitee, ich zitiere, notgedrungen vorurteilsbelastete und fehlerhafte Entscheidungen fälle. Nun kommen 19 Staaten tatsächlich nicht. Verbucht China das als Riesenerfolg?

Kirchner: China verbucht das als wahnsinnig großen Erfolg. Da gibt es Schlagzeilen in den Zeitungen, da heißt es, die Mehrheit der internationalen Gemeinschaft stünde hinter China, das hat auch die Sprecherin des Außenministeriums gestern in der letzten regulären Pressekonferenz vor der Nobelpreisvergabe in Oslo noch mal gesagt. Man hat noch mal sehr scharf das norwegische Komitee angegriffen, heute noch weitaus schrillere Töne in einigen Zeitungen – da ist von einer Rache an China, von einem Werkzeug der Rache die Rede, da ist von einem politischen Kreuzzug des Westens die Rede, also da wird wirklich propagandistisch alles aufgefahren, was man hat.

Timm: Man muss sich aber schwer in Bedrängnis fühlen, denn die chinesische Regierung hat ja schnell noch einen speziellen chinesischen Preis erfunden, ein sehr gut dotierten, den Konfuzius-Preis. Ist das jetzt der Gegen-Friedensnobelpreis aus chinesischer Sicht?

Kirchner: Nun, man will sicherlich mit diesem Konfuzius-Preis dem Friedensnobelpreis etwas entgegensetzen, allerdings sagt die Regierung, das habe mit ihr überhaupt nichts zu tun, dahinter steckt eine Gruppe von Professoren von mehreren Unis hier in Peking. Der Preis ist mit 100.000 Yuan dotiert, das sind etwa 11.000 Euro, also das ist mit dem Nobelpreis dann doch nicht so ganz zu vergleichen. Der Preis ist gestern vergeben worden an den ehemaligen taiwanesischen Vizepräsidenten Lien Chan, der im Übrigen nicht zur Preisverleihung gekommen ist. Er hatte über sein Büro verlauten lassen, dass er nicht offiziell informiert worden sei. Und man muss sich auch fragen, ob dieser Preis, der doch so offensichtlich den Nobelpreis kontern soll, ob es diesen Preis im nächsten Jahr, wenn sich dann möglicherweise die Aufregung um Liu Xiaobo ein wenig gelegt hat, ob es diesen Preis dann noch gibt und ob der dann noch ein zweites Mal überhaupt vergeben wird.

Timm: Sie haben, Frau Kirchner, in unseren Nachrichten schon mehrfach heute über Proteste, über Drangsalierungen berichten müssen, die chinesische Intellektuelle gerade in diesen Tagen erfahren. Wenn überhaupt von Protesten die Rede ist, kommt dieser Protest aus Hongkong, das heißt, in China selbst ist überhaupt nichts möglich, und Hongkong als ehemals chinesisches Kolonialgebiet der Engländer, da ist man ein bisschen freier und kann sich noch etwas mucksen?

Kirchner: Ja, auf jeden Fall. Also Hongkong ist mit Festlandchina in der Beziehung überhaupt nicht zu vergleichen. Dort gibt es viel mehr Meinungsfreiheit, Versammlungsfreiheit, dort dürfen die Leute auch auf die Straße gehen und demonstrieren, und das haben sie in diesem Fall auch getan. In Peking, in China, wäre das dieser Tage völlig unmöglich, insbesondere wenn es um den Friedensnobelpreis geht. Es gibt hier schon durchaus mal Demonstrationen, aber gerade jetzt in diesen Tagen sind ja alle, die jetzt als Freunde und Unterstützer von Liu Xiaobo gelten, stehen entweder unter Hausarrest, werden sehr, sehr stark kontrolliert, ihnen ist gesagt worden, sie sollten bitte nicht an privaten Feiern teilnehmen.

Viele werden auf Schritt und Tritt überwacht, wenn sie das Haus verlassen, und es gibt eine ganze Reihe von Aktivisten, die aus Peking herausgebracht worden sind, von denen wir im Moment überhaupt nicht wissen, wo sie sind. Und es gibt andere, deren Internetverbindungen oder deren Telefonverbindungen gekappt worden sind, um eben zu verhindern, dass sich die Leute dann übers Internet oder über Textnachrichten oder so vernetzen und vielleicht dann doch noch irgendwo treffen und in irgendeiner Form diesen Tag begehen.

Timm: Frau Kirchner, lassen Sie uns zum Schluss eine kleine Wette eingehen, ganz kurz: Sie haben uns berichtet, dass jedes Bild vom leeren Stuhl unterdrückt wird, dass das chinesische Fernsehen schwarz werden wird, dass die Zeitungen natürlich dieses Bild nicht bringen werden, trotzdem ist es ja in China bekannt. Um ein Uhr ist die Preisverleihung, wann ist das Bild vom leeren Stuhl irgendwo in China zu sehen?

Kirchner: Nun, ich denke, das wird nicht besonders lange dauern, da ist das Internet einfach heute eine zu große Macht, die auch aus China nicht mehr wegzudenken ist. Die Frage ist ja immer, wie reagiert die eine und wie reagiert dann auf der anderen Seite die Zensur? Und da wird man natürlich versuchen, das zu unterdrücken, aber das Internet ist so groß und auch so vielschichtig, dass irgendwo dann doch wieder Bilder auftauchen werden.

Timm: Paar Minuten oder paar Stunden?

Kirchner: Ein paar Minuten oder paar Stunden, wahrscheinlich erst mal nur vielleicht ein paar Minuten, vielleicht ein paar Stunden, das weiß man immer nicht so genau, aber das muss man mal abwarten. Und dann gibt es natürlich auch viele Leute hier, vor allen Dingen jüngere Leute, die sehr genau wissen, wie man die Zensur umgeht, wie man die Great Firewall überspringt, wie man auf blockierte Webseiten kommt und von da aus vielleicht sich Bilder anguckt von dieser Nobelpreisfeier in Oslo.

Timm: Ruth Kirchner aus Peking und Albrecht Breitschuh aus Oslo waren das zur anstehenden Verleihung des Friedensnobelpreises ohne den Preisträger. Ich danke Ihnen beiden!