Der Krieg hinter dem Krieg

Von Marc Thörner · 25.08.2010
Kurz vor der Parlamentswahl in Afghanistan hat die Gewalt das Land weiter fest im Griff. Hinweise in den US-Armeeprotokollen auf ein Doppelspiel afghanischer Verbündeter stellen das Bild vom Kampf der Regierung gegen Aufständische in Frage.
Um die Rolle der Paschtunen zu verstehen, muss man sich die ethnische Zusammensetzung Afghanistans vor Augen führen. Die Mehrheit der afghanischen Bevölkerung bilden die Paschtunen. Nur im Norden leben überwiegend Usbeken und Tadschiken, zu denen auch Gouverneur Atta gehört. Aus ihnen formierte sich die wichtigste Streitmacht gegen die Taliban, die Nordallianz. Mit ihrer Hilfe eroberte die US-Armee Ende 2001 Afghanistan. Auf ihren Gewehren ruht das neue afghanische System. Um der Mehrheitsbevölkerung entgegenzukommen, setzten die neuen Herren sozusagen einen Alibi-Paschtunen, Hamid Karzai, auf den Präsidentensessel. Die Macht an ihn abgeben wollten sie aber nie.

Nach Informationen aus dem US-Geheimreport witterten Ende 2006 die wichtigsten Nordallianz-Warlords eine Chance, die Macht im Staat an sich zu reißen. Sie wollten nicht nur den Paschtunen Karzai absetzen, sondern auch zum Heiligen Krieg gegen ihre Gönner, die Ausländer, die ISAF aufrufen:

"Etwa am 28. November 2006 fand im Haus von Abdul Rasul Sayyaf statt. Anwesend waren auch General Dostum, Chef der Junbesh-Partei, Buhanuddin Rabbano, Chef der Jamiat Islami, Marschall Fahim, Yunus Qanuni und Ustad Muhaqiq. Die anwesenden Führer einigten sich darauf, sich unter der Fahne von Marschall Fahim zu sammeln, um das Land von den 'Fremdherrschern' zu befreien, die derzeitige Regierung auszuwechseln und eine neue Regierung aus Mudschaheddin auszurufen."

Als Reaktion auf diese Umtriebe der Nordallianzler beschloss Präsident Karzai, sich eine Art paschtunischer Lebensversicherung zu schaffen. Dazu griff er auf die Partei zurück, die - neben den Taliban - im afghanischen Bürgerkrieg mit der Nordallianz verfeindet war: die erzfundamentalistische Hizb Islami. Es gab nur ein Problem. Der Führer der Hizb, Gulbuddin Hekmatyar, kämpfte offen auf Seiten der Taliban gegen die ISAF. Um sich dennoch auf die Hizb Islami stützen zu können, handelte Karzai mit ihr einen Deal aus: Nach außen hin musste die Partei bekunden, dass sie mit Hekmatyar gebrochen hat. Der afghanische Journalist Ahmed Hashemi, Leiter der angesehenen unabhängigen Tageszeitung "Payman Daily":

"Sie haben also die Hizb Islami gespalten, ein paar wichtige Leute sind von Hekmatyar weggegangen und haben behauptet: 'Wir repräsentieren die Hizb Islami, aber wir arbeiten nicht mehr mit Hekmatyar zusammen'. Tatsächlich untersteht auch dieser Teil der Partei ihrem Führer Hekmatyar nach wie vor. Das Ganze war ein taktisches Manöver, es ging in erster Linie darum, die westlichen Geberländer hinters Licht zu führen."

Pünktlich zu den afghanischen Präsidentschaftswahlen im Herbst 2009 schloss sich die erzfundamentalistische Hizb Islami dem Wahlbündnis für Karzai an. Ihr Vorsitzender Abdelhadi Arghandehwal erhielt den Posten des Wirtschaftsministers. In seinem Büro in einem der besseren Viertel Kabuls empfängt Arghandehwal die Besuche von Parlamentsabgeordneten und Parteimitgliedern aus den Provinzen: "Wir unterhalten keine Kontakte mehr zu Hekmatyar."

... versichert er im Interview. Gern vermittelt er den Kontakt zu den Hizb Islami-Repräsentanten in der nördlichen Balkh-Provinz. Sie findet sich in einem der paschtunischen Dörfer unweit von Mazar- e Sharif. Die bekannten ockerfarbenen Mauern, die bekannten Lehmdörfer.

Die Hizb-Islami-Mitglieder, die den Besucher in einem Gästehaus empfangen, geben sich als Verbündete von Präsident Karzai höchst staatstragend:

"Unsere Hizb Islami ist eine registrierte Partei, sie unterstützt die afghanische Regierung. Ich weiß nichts von Hizb-Islami-Mitgliedern, die sich den Taliban angeschlossen hätten. Auch über Hekmatyar kann ich nichts sagen. Wenn er gegen die Regierung ist, dann ist das seine persönliche Haltung. Ich kann dazu nichts sagen.""

Doch im Haus des Hizb Islami Chef fällt ein ganz bestimmter Mann auf: Zabet Khanjar. Ein Mann, dessen Aktivitäten in den geheimen US-Armeeberichten breiten Raum einnimmt:

"Zabet Khanjar ist einer der Hekmatyar-Führer in der Balkh-Provinz. Er wurde im August 2005 damit beauftragt, Wähler einzuschüchtern, terroristische Aktionen durchzuführen und wenn nötig, Wahlkandidaten umzubringen. Er gehört zu jenen, die Attentate mithilfe von Behinderten durchführen lassen."

Die Quelle des US-Armeereports weist darauf hin, dass Zabet Khanjar von Gulbudiddin Hekmatyar bereits im März 2006 Geld an Hizb Islami-Mitgleider in Balkh verteilte. Hekmatyars Auftrag habe gelautet:

"Greift die Feinde mit allen Mitteln an, schlagt zu. Auch mit Stinger-Raketen, egal zu welchem Preis, auch wenn sie zwischen 150.000 und 200.000 US-Dollar kosten sollten, ich werde das bezahlen. Tötet Gouverneur Atta, koste es, was es wolle, er ist ein Hindernis für uns in der Region."

Auch zahlreiche Stellen in den US-Geheimreports weisen auf die Verbindungen zwischen Hekmatyar und dem pakistanischen Geheimdienst ISI hin – Beobachtungen wie diese:

""Gulbuddin Hekmatyar und General Suaeb vom pakistanischen Geheimdienst ISI trafen sich mit zwei Männern aus dem Sorobi-Distrikt. Jedem von ihnen gab Helmatyar 2500 US-Dollar. Die Männer verfügen über zwölf ägyptisch fabrizierte Sakar 20-Raketen. General Suaeb befahl ihnen, diese Raketen nicht weiter als in 20 Kilometer Abstand auf den Flughafen abzuschießen, am besten von feuchtem Boden aus, um zu verhindern, dass Staub aufwirbelt, der von der ISAF gesehen werden könnte."

Doch die Macht des pakistanischen Geheimdienstes, so ist sich "Peyman"-Chefredakteur Hasheimi sicher, reicht bis ins Kabinett von Präsident Karzai:

"Der engste Mitarbeiter des pakistanischen ISI ist Faruk Wardak, Karzais Verteidigungsminister. Er ist zugleich auch einer der Verbindungsmänner zu Hekmatyar."

Damit zeichnet sich immer deutlicher ab: Was in Afghanistan stattfindet, ist offenbar kein Krieg gegen den Terror, sondern längst eine Neuauflage des afghanischen Bürgerkriegs. Und in dem Maße, wie die ISAF Partei für bestimmte Akteure ergreift, wird sie in diesem Bürgerkrieg als Partei verstanden.

"17. Oktober 2009. Feindliche Aktion. Der Taliban-Führer Mullah Rahmatullah hat mit seinen Kämpfern eine Schule im Dorf Ali Abad angegriffen, er konnte die beiden Wachen entwaffnen und ihre Gewehre erbeuten."

… heißt es im Tagesbericht der Task Force Warrior – Teil des geheimen US-Armeereports aus Afghanistan, der kürzlich von der Internetplattform Wikileaks veröffentlicht wurden.

Die Einheit ist Teil der Mountain Brigade – einer derjenigen amerikanischen Truppenteile, von denen immer mehr im deutsch geführten Regionalkommando stationiert werden. Bisher war Balkh, anders als die Nachbarprovinz Kundus, relativ ruhig. Die Nachrichtenoffiziere der US-Gebirgsjäger wollen daher wissen, wer hinter dem Überfall auf die Schule steckt.

Wie viele der internationalen Truppen verfügen auch die Amerikaner über ein Netz lokaler Informanten. Der Spion der Amerikaner ist ziemlich hoch platziert, kein Geringerer als ein Oberstleutnant der afghanischen Nationalpolizei:

"Der afghanische Polizeichef, Oberstleutnant R., teilte uns mit, dass Gouverneur Atta den Leuten sagt, sie seien frei zu tun, was immer sie wollten. Es gehe darum, die Unsicherheit in der Region zu verstärken und dadurch zu zeigen, wie unfähig die Karzai-Regierung sei, für Sicherheit zu sorgen."

Mazar-e Sharif, die Handelsstadt im Norden unweit der Grenze zu Usbekistan, ist eine Boomtown. Ihre Atmosphäre gleicht der Mischung aus einer amerikanischen Pionierstadt des Mittelwestens und einem zentralasiatischen Bazar. Am Stadtrand, auf unasphaltiertem Gelände wachsen Hochbauten aus Beton. Projekte, die unter der Ägide von Gouverneur Mohammed Atta Nur entstehen. Bilder von Präsident Karzai haben in Mazar-e Sharif Seltenheitswert. Dagegen stößt man an Kreuzungen und zentralen Punkten der Staat auf die Monumentalportraits Mohammed Atta Nurs.

Seit er sich vom Mudschaheddin-Haudegen zum Politiker gemausert hat, befolgt er das internationale kalifische Protokoll islamischer Herrscher. Jeder Untertan darf ihm seine Bitten persönlich vortragen. Wer das möchte, wendet sich an seine Sekretäre. Sollte das Gesuch weitergeleitet werden, kann der Besucher bald in ein Antichambre treten, das neben einem Bild Attas auch ein Deutschlandwimpel schmückt. Nach einer angemessenen Wartezeit öffnen sich die Flügeltüren und geben den Blick auf einen hohen Saal frei, an dessen Stirnseite Atta neben einer Weltkugel aus Lapislazuli auf einem Rokokostuhl mit goldgeschwungener Lehne thront:

"Ich freue mich, Ihnen sagen zu können: Nach meinem Studium habe ich mich zunächst dem Widerstand gegen die Russen angeschlossen, um gegen den Kommunismus zu kämpfen. Dann habe ich gegen die Taliban gekämpft. Nun ist die Welt endlich befreit vom Kommunismus und vom Terrorismus."

Wer seine Feinde sind, darüber legt der Gouverneur ein eindeutiges Bekenntnis ab:

"Das ist der Terrorismus. Die Al-Kaida. Das sind die Taliban, diejenigen, die noch immer von Pakistan unterstützt werden."

Hinweise der Internetplattform Wikileaks deuten nun allerdings darauf, dass Atta selbst dem Terror Vorschub leisten könnte. Bislang galt der Gouverneur der Nordprovinz als einer der verlässlichsten Verbündeten der ISAF – und das bedeutet im Norden des deutsch geführten Regionalkommandos:

"Im Norden wäre insgesamt die vergleichbar ruhige Situation nicht möglich, wenn wir nicht mit dem Gouverneur und mit den administrativen Spitzen gut zusammenarbeiten könnten." … sagt Thomas Kossendey, parlamentarischer Staatssekretär im Verteidigungsministerium. "Wobei man nicht außer Acht lassen darf, dass insbesondere der Gouverneur Atta auch eine schillernde Figur ist, um das mal höflich auszudrücken, der durchaus seine Finger in alten Strukturen noch hat."

Eine diplomatisch gehaltene Formulierung. Doch dahinter verbirgt sich eine Realität, die wenig zu dem kalifischen Protokoll passt, mit dem der Gouverneur sich umgibt. Das jedenfalls meint Tillmann Schmalzried, Afghanistan-Koordinator der Gesellschaft für bedrohte Völker, der sich seit langem mit dem System Atta befasst:

"Mazar-e Sharif ist die zentrale Schaltstelle des Drogenhandels von Südafghanistan nach Zentralasien. Es ist die zentrale Stelle des Zwischenhandels zur zentralasiatischen Grenze. Atta Mohammed Nur hat diesen Drogenhandel kontrolliert."

Durch Macht, die ihm daraus erwuchs, so Schmalzried, konnte er sich über die Interessen der Zentralregierung hinwegsetzen – und sie zwingen, ihn zum Gouverneur zu machen:

"Anfang 2004 gab es einen neuen Polizeichef, der tatsächlich auch vom Innenministerium in Kabul geschickt worden war mit 350 Soldaten. Das Ergebnis der Konfiszierung eines Drogentransportes war, dass Atta mit mehreren Tausend seiner Soldaten in Mazar-e Sharif einmarschiert ist, dass er den Polizeichef in seinem Haus belagert hat und dass Kabul nach etwa drei Wochen eine Vermittlungsentscheidung getroffen hat. Und diese Entscheidung hieß, dass Atta nun Gouverneur sein wird."

Dennoch überwogen aus der Sicht der ISAF Attas Vorzüge bisher seine Nachteile. Verteidigungsstaatssekretär Thomas Kossendey:

"Ich glaube, die verbesserte Sicherheitslage ist ein beredtes Zeugnis dafür. Das konnten wir nur gemeinsam schaffen, das konnte ISAF gar nicht alleine schaffen."

Um von Kabul aus in die Nordprovinz von Balkh zu kommen, muss man zunächst den Salang-Pass überqueren. Immer höher hinauf führt die schlecht geteerte Straße, mitten hinein in die Berge, durch einen kilometerlangen Tunnel, der einst von der Sowjetunion gebaut wurde, im afghanischen Bürgerkrieg umkämpft war und dessen Straßenbelag schon vor langer Zeit unter Panzerketten und überladenen Lastwagen zerbröckelt ist. Bald hinter dem Salang-Pass teilt sich die Straße auf – in Richtung Kundus ist sie nicht befahrbar. Taliban beobachten sie und lauern immer wieder den Reisenden auf. In Richtung Balkh ist sie zur Zeit noch sicher. Relativ sicher. Zwar nehmen auch hier die Zwischenfälle zu, doch noch, so meinen ISAF-Offizielle, verhindert Gouverneur Attas starke Hand das Schlimmste.

Für die Bewohner dort sind Gouverneur Attas Verbindungen zu den Aufständischen dagegen schon ein offenes Geheimnis, sagt ein Mann, der nur während einer Autofahrt reden will. Er kenne den Vermittler, über den der Gouverneur seine Kontakte zu den Taliban unterhalten soll:

"Attas Verbindungsmann heißt Kari Hamatullah, zur Taliban-Zeit war er der Chef der Verkehrspolizei. Er lebt in der Balkh-Provinz und ist ziemlich wohlhabend, weil er sich jetzt mit dem Gouverneur verbündet hat. Hamatullah hält den Kontakt nach Pakistan und zu den Taliban und über diese Schiene ist auch Atta mit den Aufständischen verbunden. Atta hat eine ganze Reihe von Angriffen und Bombenattentaten in Auftrag gegeben, er will verhindern, dass Ruhe und Frieden in seiner Provinz einziehen."

Ein paar Kilometer hinter Mazar-e Sharif liegt eine paschtunische Enklave, die sich auf den ersten Blick in nichts von den tadschikischen Dörfern ringsum unterscheidet. Die gleichen sandigen Pisten; die gleichen Felder mit den breiten ausgetrockneten Bewässerungskanälen, die gleichen Lehmmauern, die ebenfalls aus Lehm errichtete Gehöfte umschließen. Auch der Chef dieser Gemeinde berichtet über verdeckte Aktionen, Anschläge, die vermeintlich von den Aufständischen, tatsächlich aber von Gouverneur Attas Geheimdienst ausgeführt würden. Er bestätigt damit die Aussage des Informanten:

"Atta setzt einen speziellen Geheimdienst ein. Er besteht aus etwa 110 bewaffneten Männern, die in der Kleidung von Paschtunen unterwegs sind. Atta hat auch 50 Motorräder kaufen und sie über einen Mittelsmann an die Taliban für ihre Aktionen liefern lassen."

Attas Motiv, so der Gemeindechef, bestehe darin, durch solche Aktionen die Paschtunen für den Terror verantwortlich zu machen. Auf diese Weise könne er anschließend mit dem stillschweigenden Wohlwollen der ISAF rechnen, wann immer er gegen die paschtunische Minderheit vorgeht. Vor allem durch Landraub zugunsten von Attas Klienten und Unterkommandeuren:

"In der Provinz Balkh sind zahlreiche Ländereien den Paschtunen ganz einfach weggenommen worden. Trotz aller Dokumente und Besitzurkunden. Niemand kann sich gegen diesen Diebstahl wehren."

Weil in den Augen der paschtunischen Minderheit in Nordafghanistan die ISAF Attas Treiben kritiklos hinnimmt, halten die Geschädigten inzwischen das ausländische Militär für den verlängerten Arm des Gouverneurs:

"Als die ISAF nach Afghanistan gekommen ist – ist sie gekommen, um hier zwei oder drei Persönlichkeiten militärisch zu unterstützen? Oder ist sie gekommen, um dem Land und der Bevölkerung zu helfen? Die deutsche Regierung hat doch selber Köpfe, um zu denken. Die deutschen Politiker können doch selbst beurteilen, was besser ist: den Afghanen zu helfen oder Gouverneur Mohammed Atta. Wenn die Deutschen sich für Atta entscheiden, wird sich das sehr schlecht auf unsere Situation auswirken."
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