Der Kollaps der "weißen Stadt"

20.10.2009
Israelis, so Nir Baram, erkenne man daran, dass sie die Zukunft meist nur als Bedrohung sähen. Als mittlerweile "genetisch verankert" empfindet er die Furcht davor, dass schon an der nächsten Straßenecke eine Katastrophe lauere, dass jederzeit Menschen ausgelöscht und Orte zerstört werden können. Deshalb hat Nir Baram eine Dystopie entworfen.
Sein auktorial erzählter Roman ist ein Planspiel, in dem die "erste hebräische Stadt der Welt” allmählich untergeht - nicht in ferner Zukunft, sondern zeitnah. Tel Aviv wird von Winden heimgesucht, die "wie Leichenfledderer heulen". Obdachlose sterben den Kältetod. Eine Epidemie rafft ebenso Leute aus wohlhabenden Vierteln dahin. Ehen zerbrechen. Kinder jagen ihre Eltern fort. Eltern verraten ihre Kinder. Manche Figur verschwindet spurlos. Der Zerfall der Stadt soll all jene Lügen strafen, die der Selbsttäuschung aufsitzen und meinen, Tel Aviv sei eine von Europäern geschaffene, europäische Stadt am Mittelmeer. Nach und nach drängen immer mehr Menschen aus dem Norden und dem Süden des Landes in die verlassene Stadt und geben ihr ein nahöstliches, orientalisches Gesicht. Es könnte sein, dass Nir Baram eine Rachefantasie auskostet. Bekannt ist, dass er die Tel Aviver für borniert und überheblich hält. Die Hälfte der israelischen Schriftsteller wird seinem Urteil zustimmen, die andere Hälfte heftig widersprechen.

Von einem Penthouse aus beobachtet der Wiederträumer den Kollaps der "weißen Stadt". Der Roman zitiert auch hier den alten Widerstreit zwischen dem liberalen Tel Aviv und dem fanatischen Jerusalem, dem Geburtsort des Wiederträumers, wo man schon immer wusste, dass die Bewohner der gerade mal hundert Jahre alten, rasant wachsenden Küstenmetropole eher "Teufelsaustreiber" und mehr noch "Gottes Gnade" bräuchten.

Als Kind ein Außenseiter, entdeckte Joel Kadman seine Fähigkeit, die Traumbilder anderer zu sehen. Später wurde ihm die fremde Traumaktivität zum Werkzeug. Gezielt half er Leuten, die sich nach ihren verschütteten Wünschen und Lebenshoffnungen zurücksehnen, Träume wieder zu holen. Manch einer, der ein neues Leben beginnen wollte, strauchelte. Die eigene Vergangenheit lässt sich nicht dauerhaft einkapseln und leugnen. Der Wiederträumer ist ein "Schwamm". Sein Abstieg und seine Verelendung begannen, als er ein Geschäft aus seiner Begabung machte. Bankdirektoren, Politiker und Fernsehstars gehören zur Klientel. Er wurde zum Plünderer, der die Seelenregungen anderer "ausschlachtet".

Nir Baram wollte es partout vermeiden, einen realistischen Roman zu schreiben. Träume zu schildern und über das ungemein verdichtete Erleben im Schlaf poetisch zu mäandern, garantiert die Einlösung seines Vorhabens. Leider überfrachtet der Autor sein Buch mit zu vielen Detailschilderungen und Handlungsmomenten, die für den Fortgang des Romangeschehens ohne Widerhall und Folgen bleiben. Manche Miniaturszenen wiederum, wie der Prolog des Romans, in dem sich der Wiederträumer als Kind in die Betrachtung der Fotografie seines vor langer Zeit gestorbenen Großvaters vertieft, sind von schlichter Schönheit. Seine Sprache ist präzis und unprätentiös, wenn er nur beschreibt. Den Träumenden zur "Botschaft" und zum "Schlachtruf" zu stilisieren, ist bloßes Geraune.

Zu den nachhaltig im Gedächtnis bleibenden Abschweifungen gehören jene realistischen Skizzen, in denen Baram verdrängte Geschichte aufscheinen lässt: die Vertreibung der Palästinenser im ersten Unabhängigkeitskrieg 1948; die Agententätigkeit arabischer Israelis für den israelischen Geheimdienst; die Spannungen zwischen den wohlerzogenen Jugendlichen in Beth-HaKerem und den Teenagern aus Romena. In Jerusalem prallen Welten scharf aufeinander. Wie Nir Baram die Anziehungskraft der respektlosen, auf sich gestellten ärmeren Schichten erfasst, gibt dem Roman eine Wärme, die sein Sujet sonst ausschließt.
Besprochen von Sigrid Brinkmann

Nir Baram: Der Wiederträumer
Aus dem Hebräischen von Lydia Böhmer und Harry Oberländer
Schöffling & Co. Verlag, Frankfurt am Main 2009
480 Seiten, 24,90 Euro