Der kleine Bruder des Todes

Philipp Osten im Gespräch mit Joachim Scholl · 05.10.2010
Mythos Nachtruhe: Napoleon oder Margaret Thatcher sollen mit viereinhalb Stunden pro Nacht ausgekommen sein - andere brauchen bis zu zehn Stunden Schlaf. Für Mediziner Philipp Osten ist Schlaf auch eine Art kultureller Erziehungsleistung.
Joachim Scholl: Der Philosoph Arthur Schopenhauer nannte ihn den "kleinen Bruder des Todes": den Schlaf! Gut und tief zu schlummern, ist für uns lebensnotwendig, und längst ist aus dem Schlaf ein weitgespanntes medizinisches Forschungsfeld geworden, in dieser Woche tagen Experten gleich auf zwei großen deutschen Kongressen zum Thema. Im Studio begrüße ich jetzt den Mediziner und Wissenschaftshistoriker Philipp Osten von der Universität Heidelberg. Herr Osten befasst sich mit dem Schlaf aus geschichtlicher Perspektive, denn wie wir schlafen und auch wie lange, ist seiner Ansicht nach auch Ergebnis unserer Kultur. Guten Tag, Herr Osten!

Philipp Osten: Schönen guten Tag!

Scholl: Wie lange haben denn Sie heute geschlafen?

Osten: So sechseinhalb Stunden.

Scholl: Sieben bis acht Stunden Schlaf braucht der Mensch, sagt die moderne Medizin. Ab wann spricht man eigentlich von dieser idealen Schlafzeit?

Osten: Ab welcher Zeit man davon spricht, na ja, das ist so ungefähr um 1800. Da gibt es das Buch "Makrobiotik, oder: Die Kunst, das menschliche Leben zu verlängern" des Hofarztes des Berliner Königs, und das ist Herr Hufeland gewesen. Und dieses Buch von Hufeland, das schreibt ganz genau vor, wie lange man schlafen muss, und auch, wann man schlafen muss. Nämlich zwei Stunden vor Mitternacht hat dieser Schlaf zu beginnen, und sechs Stunden nach Mitternacht hat er zu enden.

Scholl: Das ist sozusagen also festgelegt worden von Herrn Hufeland?

Osten: Herr Hufeland hat als Erster beschrieben, dass es da doch eben halt medizinische Gründe für geben soll, rechtzeitig vor Mitternacht einzuschlafen, weil nämlich dann ein Fieber steigen würde, das hat er gemessen. Und dieses Fieber, das würde einen, wenn man nachts arbeiten würde, ja in Stimmung bringen, aber es sei doch viel besser, eben halt diese Zeit zu verschlafen.

Scholl: Sind diese acht Stunden ideale Schlafzeit jetzt nur Kultur oder doch auch eine wirklich körperlich-medizinische, organische Notwendigkeit?

Osten: Da kann man ganz schön auf Ihr Eingangszitat zurückkommen, was Schopenhauer sagte: Schlaf als Bruder des Todes. Sehr nett hat das formuliert Friedrich Wolf, der Dramatiker und Naturheilkundler. Der hat nämlich gesagt, die Stunden Schlaf, die wir nicht schlafen, die holt sich der Bruder, das heißt der Tod. Also viele Mediziner meinen, dass man doch tunlichst diese acht Stunden schlafen sollte. Aber nun ja ... Einige Leute essen viel, weil sie großen Hunger haben; andere Leute schlafen viel, weil sie ein großes Schlafbedürfnis haben. Auch da gibt es Unterschiede. Es gibt in der Wissenschaftsgeschichte viele Untersuchungen dazu, wie viele Stunden ein Mensch schlafen muss. Da haben sich Mediziner in dunklen Bergwerken eingeschlossen für Monate, um ihren Schlafrhythmus herauszufinden; da wurde geforscht nach Hormonen ... Es gibt Menschen, die tatsächlich mit viereinhalb Stunden Schlaf auskommen – Napoleon und Margaret Thatcher beispielsweise, von denen wurde das behauptet –, und andere, die brauchen neun, zehn Stunden Schlaf. Und dann gibt es natürlich große Unterschiede in unterschiedlichen Lebensaltern: Bei Kindern ist es so, dass sie 14 Stunden schlafen, dann gibt es die sogenannte gefürchtete senile Bettflucht, und die treibt einen spätestens nach fünf Stunden heraus.

Scholl: Man sagt ja gemeinhin, dass also Schlaf sozusagen wie das Essen eine anthropologische Konstante sei. Sie, Herr Osten, haben herausgefunden, dass Schlaf auch eine Art kultureller Erziehungsleistung ist ...

Osten: Oh, da bin ich nicht der Erste, der das sagt, da gibt es viele vor mir. Also diese anthropologische Konstante hat beispielsweise Philippe Ariès, das ist der französische Historiker, der die Geschichte des Todes geschrieben hat, als ja ein ununterbrochenes Phylum bezeichnet, also Geborenwerden, Sterben, das, was wir tun müssen, Essen, Trinken und so weiter und so fort. Dass die Kultur eine ganz große Rolle da spielt, das leitet sich daher, dass man sagt, dass ja Zivilisation eigentlich nichts anderes ist als der Versuch, den Einbruch der Natur in das menschliche Leben zu verhindern. Wenn man sich das so vorstellt, ist natürlich der Tod der brutalste Eingriff in das menschliche Leben, der Schlaf etwas, was sich immer wieder wiederholt, aber selbstverständlich auch etwas, von dem wir übermannt werden, so kann man das ja auch sagen.

Scholl: Das heißt, wir hätten also länger schlafen gelernt mit den Zeiten? Oder anders?

Osten: Na ja, also ich würde meinen, wir bringen es ja den, unseren Kindern relativ rechtzeitig bei: Wir wollen durchschlafen und wollen das Geschrei nachts nicht. Wir versuchen, die Fütterung so durchzuführen, dass die Kinder nachts schlafen, wenn wir auch schlafen, wenn wir schlafen müssen. Und das ist etwas, womit wir sehr, sehr früh beginnen das anzuerziehen. Es gibt zig Ratgeber, wo Eltern Rat gegeben wird, wie das Kind am besten einschlafen soll, wie es am besten durchschlafen soll. Und deswegen ja ist unsere ganze Erziehung eben halt auch schon darauf ausgerichtet, einen kontinuierlichen Nachtschlaf zu haben, möglicherweise ein Mittagsschläfchen einzuhalten; das sind Dinge, die wir uns selber anerziehen, die zu unserer Kultur gehören.

Scholl: Nun beklagen laut einer jüngeren Umfrage der Zeitschrift "Psychologie heute" 42 Prozent der Deutschen Schlafstörungen und meistens ist damit gemeint, dass man zu wenig schläft, oder schlecht einschläft, lange wach liegt. Also Ihrer Analyse zufolge wäre das neben dem medizinischen Problem auch eine Frage ja kultureller Wahrnehmung?

Osten: Ja, durchaus. Wir werden ja aufmerksam gemacht auf ganz viele Schlafstörungen, die wir angeblich haben. Wir schnarchen, darauf werden wir aufmerksam gemacht von unseren Partnern, wenn wir schnarchen. Aber viele andere Sachen wie das Schlafapnoe-Syndrom oder nächtliches Schlafwandeln, das war vor 200 Jahren in Mode, eine Schwierigkeit, mit der sich Ärzte beschäftigt haben, auf all diese Dinge wird man eben aufmerksam gemacht. Und so akkumulieren sich eine Vielzahl von Schlafstörungen.

Scholl: Schlaf als kulturelles Produkt – wir sind im Gespräch mit dem Heidelberger Wissenschaftshistoriker Philipp Osten. Herr Osten, gibt es eigentlich auch kulturelle Unterschiede zwischen den Nationen? Schlafen Afrikaner etwa anders als Europäer?

Osten: Marcel Mauss hat mal behauptet, dass man ganze Kulturen danach unterscheiden könnte, wie sie denn schlafen. Und er hat festgestellt, dass unterhalb des 15. Breitengrades sich alle Kulturen eines Werkzeugs bedienen, wir beispielsweise des Bettes. Dann gibt es in Afrika Gesellschaften, die sich eben halt im Kreis anordnen zum Schlafen. Viele, viele Unterschiede gibt es dort. Dennoch ist aber dieses westliche Schlafmodell etwas, was sicherlich stark in einer vernetzten Welt auf dem Vormarsch ist.

Scholl: Inwieweit hat sich also das Schlafverhalten eigentlich der Menschen ja in unserer Zivilisation der letzten paar 100 Jahre signifikant verändert?

Osten: Wenn wir uns angucken, wie sah das allein vor 100 Jahren aus in Berlin: Da gab es vier Millionen Menschen, die nachts zu zweit, dritt oder viert in einem Bett schliefen. Es gab sogenannte Schlafgänger, die in die neuen großen Industriestätten zogen und dort für acht Stunden ein Bett hatten, und die nächste Schicht war das Bett wieder neu vermietet. Also das ist ein eklatanter Unterschied. Ich würde sagen, wir haben vor 100 Jahren völlig anders geschlafen als wir das heute tun.

Scholl: Besser?

Osten: Tja, das vermag ich nicht zu sagen. Es gibt sicherlich viele, viele Schlafstörungen, und es gibt sicherlich viele Momente, wo man nicht gut schläft oder sich wünscht, besser zu schlafen. Aber man muss ja immer diesen Vergleich haben. Und wenn der Nachbar morgens um sechs aufsteht, die Kinder schnell anzieht und abends um elf erst wieder zurückkommt, wie das bei vielen Fabrikarbeitern in dieser Zeit war, dann ist das eben halt etwas, was alle so haben, wo man im Prinzip die Veränderung nicht sieht.

Scholl: Johann Gottfried Herder, Philosoph des 18. Jahrhunderts, hat ein einmal formuliert, im Schlaf ebenso wie im Tode sei der Mensch in seiner Seele aufgehoben. Das ist ein Motiv, das in der Geistesgeschichte auch immer wiederkehrt, und hat natürlich damit zu tun, dass wir im Schlaf auch träumen. – Seit Freud weiß der moderne Mensch, wie bedeutsam Träume sind. Hat diese Verbindung zwischen Schlaf und Traum eigentlich schon immer die Menschen beschäftigt?

Osten: Es ist so gewesen, dass – und das ist auch Anfang des 19. Jahrhunderts gewesen – man meinte, dass eben im Schlaf tatsächlich der Mensch in seiner Seele aufgehoben ist und damit auch ins Unendliche blicken könne. Nur in dem Moment, in dem er erwacht, das Bewusstsein da ist, ist das verschwunden. Und so haben sich viele Mediziner darum bemüht, Kontakt mit Schlafenden aufzunehmen. Mit Hypnose beispielsweise, oder man fand ganz selten somnambule Personen, die man dann befragen konnte ...

Scholl: ... die Schlafwandler ...

Osten: ... die Schlafwandler ... ja, somnambul heißt heute schlafwandeln, aber damals war das noch viel mehr, was damit zusammenhing. Das bedeutete eben halt, dass man in einem Zwischenstadium zwischen Schlaf und Wach sich befand. Und da konnte man eben Auskunft – oder das war die Meinung vieler Wissenschaftler –, da konnte man eben Auskunft geben darüber, wie es denn im Unendlichen aussieht.

Scholl: Sie, Herr Osten, habilitieren sich derzeit über die Kultur des Schlafens. Was wäre denn Ihre Prognose für die Zukunft: Bringt die ja digitale Revolution, die wir ja gerade erleben – so 24 Stunden online sein –, eventuell wiederum eine Veränderung unseres Schlafverhaltens, unserer Schlafkultur hervor? Werden unsere Urenkel vielleicht sagen, ach ja, das späte 20. Jahrhundert oder das frühe 21. Jahrhundert war ganz schön verschlafen?

Osten: Ja, ist die Frage, ob wir uns ein verschlafenes oder ein waches 21. Jahrhundert wünschen wollen. Ich bin ganz froh eigentlich darüber, dass der Schlaf als etwas Individuelles wahrgenommen wird. Es ist nicht mehr etwas Kollektives, was zu einem bestimmten Zeitpunkt beginnen muss und zu einem bestimmten Zeitpunkt endet. Und da ist eine vernetzte Welt mit Online und nachts lesen und all diesen Dingen, die ja erst durch das elektrische Licht möglich war, dadurch nimmt möglicherweise die Unordnung beim Schlafen zu; aber es ist etwas, was uns die Möglichkeit gibt, unseren Schlaf selbst einzuteilen, viel mehr, als das in vorangegangenen Generationen war.

Scholl: Der Wissenschaftshistoriker Philipp Osten, er erforscht die Kultur des Schlafens. Ich danke Ihnen für das Gespräch, Herr Osten, und wünsche Ihnen, natürlich für später heute, eine gute Nacht!

Osten: Vielen herzlichen Dank!
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