Der Intellektuelle und die Wirklichkeit

09.02.2007
"Ich sterbe jetzt, aber vorher habe ich noch einiges zu sagen", lautet der erste Satz dieses Romans. Was dann folgt, ist die Lebensbeichte eines fiebernden Priesters, dessen eigentliche Passion die Literatur ist. Einflussreicher chilenischer Kritiker und Dichter, lässt Sebastián Urrutia Lacroix auf seinem Sterbebett markante Episoden seines Lebens Revue passieren.
Er tut das nicht entspannt, sondern eher getrieben: Sein Gewissen, jener "vergreiste Grünschnabel", dem es einfiel, "in einer einzigen blitzdurchzuckten Nacht" nicht näher benannte "Infamien" zu verbreiten, um den klerikalen Literaten "in Verruf zu bringen", nötigt ihm diese Lebensbeichte ab.
Er rechtfertigt sich selbstbewusst, von der – ausgestellten – Höhe eines Geistesmenschen herab, der sich in erster Linie der Literatur verpflichtet fühlt. Der keinerlei politische Zuschreibungen sucht und Pablo Neruda und andere linke (oder gar kommunistische) Autoren früh geschätzt und gefördert hat, eben weil sie gute Autoren waren. Und der sich dennoch vom Hieb des "vergreisten Grünschnabels" getroffen fühlt, es könnte etwas faul sein an der politikfernen geschliffenen Geistigkeit und "Literarizität" seiner Existenz.

Die Lebensbeichte überquert episodenhaft fast ein halbes Jahrhundert, die Rede ist meist von der Literatur und vom Literaturbetrieb, aber allmählich kristallisiert sich die Kernfrage heraus: Sie betrifft das Verhältnis von Geist/Literatur und Macht. Wie weit gehen die Verstrickungen, selbst wenn sie auf den ersten Blick nicht wahrgenommen werden?

Ernst Jünger als deutscher Besatzungsoffizier in Paris taucht da auf, und die Episode ist bezeichnend. Jünger findet sich im Atelier eines kränkelnden, offenbar lebensüberdrüssigen guatemaltekischen Malers ein, man redet über Kunst und Erinnerung. Und im Weggehen sagt Jünger zu seinem Begleiter, er glaube nicht, dass der Maler den nächsten Winter erleben werde.

Dies habe seltsam geklungen, "denn niemandem war zu jener Zeit entgangen, dass viele Tausende Menschen den nächsten Winter nicht mehr erleben sollten...". Der Intellektuelle/Künstler, der sich seinem Denken oder seiner Kunst selbstvergessen hingibt und dabei nicht wahrnimmt, dass er Teil einer auch durch ihn geformten Wirklichkeit ist, das ist der tiefsitzende Konflikt dieser Lebensbeichte.

Dieser Konflikt schreibt sich schließlich auch in die Biographie des "beichtenden" Priesters selbst ein. Diskret vermittelt, wird er aufgefordert, zehn Vorlesungen über das Wesen des Marxismus zu halten. Seine Hörerschaft besteht aus dem Putschgeneral Augusto Pinochet und den Generälen der Militärjunta, die wissen wollen, wie der Feind denkt.

Und noch näher rückt ihm die brutale Wirklichkeit, als er erfährt, dass jener literarische Salon einer Schriftstellerin, den er lange frequentiert hat, im Keller eine Folterwerkstatt des Geheimdienstes beherbergte. Der Priester stellt sich durchaus diesem Konflikt, aber zugleich lehnt er jede persönliche Verantwortung ab. "Was kann ein einzelner schon gegen die Geschichte ausrichten?" fragt er sich und stellt lapidar fest, "ich bin stets mit der Geschichte gegangen."

Bolaños Roman ist wie alle Texte dieses Autors: eigenwillig und durchaus verwirrend, dabei von großer sprachlicher Schönheit und voller Spannung in jedem Moment. Er erzählt nicht vordergründig und richtet nicht über seinen Helden, vielmehr untersucht er die Gegebenheiten einer intellektuell noblen, aber doch auch heiklen Existenz.


Rezensiert von Gregor Ziolkowski


Roberto Bolaño: Chilenisches Nachtstück
Aus dem Spanischen von Heinrich von Berenberg.
Carl Hanser Verlag, München und Wien 2007
160 Seiten, 17,90 Euro