Der Held aus dem Urwald

18.09.2013
Der brasilianische Autor Mário de Andrade zählte in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts zu den führenden Intellektuellen seiner Heimat. In seinem Roman "Der Held ohne Charakter" geht es um einen jungen Stammesangehörigen aus dem Urwald, der in den Moloch São Paolo gerät.
Wenn ein Roman mit solchen Sätzen beginnt, darf man sich auf etwas gefasst machen:

"Tief im Urwald wurde Macunaíma geboren, Held unseres Volksstamms. Er war pechschwarz und Sohn der Nachtangst."

Der "Held" ist recht eigentlich ganz unheldisch: ein faules nerviges Kind, das erst mit sechs Jahren zu sprechen beginnt, seine Umwelt im brasilianischen Urwald dann aber gelegentlich mit Sentenzen überrascht, die viele vermuten lassen, hier wachse eine außergewöhnliche Gestalt heran. Das Heranwachsen geht dann ganz schnell, eine flinke Urwaldzauberei, und aus dem Kind wird im Handumdrehen ein erwachsener junger Mann. Nur der Kopf bleibt der eines Kindes, für immer.

Große Taten vollbringt der Held nicht, im Grunde vollbringt er gar keine. Seine Tage gehen zwischen Urwaldstreifereien, bei denen er allerlei Zauberwesen über den Weg läuft, und dem wollüstigen Verführen der wechselnden Bräute seines älteren Bruders dahin, während der sich um Fischfang und Jagd kümmert. Der zweite Bruder ist Zauberer, von seinem Berufsalltag erfährt man allerdings nichts. Bei einem seiner Gänge trifft Macunaíma auf "Ci, die Mutter des Urwalds", eine schöne junge Frau. Nach anfänglicher Gegenwehr wird sie schließlich seine leidenschaftliche Geliebte, eine Beziehung, in der der Schmerz die Lüste gewaltig steigert.

Eine abenteuerliche Suche
Im Kampf mit einem dieser Waldgeister wird sie bald getötet und steigt als Stern zum Himmel auf. Dem Helden, der hier und da auch einige Zauberkräfte aufblitzen lässt, bleibt nur ein Amulett als einziges Erinnerungsstück an seine Geliebte. Das ihm aber abhandenkommt - er begibt sich mit seinen Brüdern auf die äußerst abenteuerliche Suche nach diesem Amulett, über Flüsse und durch Wälder geht die Reise, sie begegnen Sternen und gewalttätigen Bäumen unterwegs, Riesenwürmern und sehr viel anderem Getier, das spricht und unentwegt sich verwandelt. Die Spur des Amuletts führt schließlich nach Sao Paulo, für die Urwaldindios natürlich eine hochexotische Welt, aufregender und verwunschener als ihr gewohntes Ambiente.

Dieses Buch speist sich aus zwei Quellen. Da sind die Mythen und Legenden der brasilianischen Ureinwohner, ihre Symbolik, ihre Bildsprache, die lakonische Selbstverständlichkeit, mit der sie die Wirklichkeit mit dem Agieren von Zauberern, Waldgeistern und allem möglichen Wundergetier erklären. Solche Mythen greift der Roman ebenso auf wie die Titelfigur, die ihnen entstammt.

Mário de Andrade hat sich hier aus einem reichhaltigen Schatz bedient, jedoch nicht zu Dokumentationszwecken. Er schmückt diese Mythen aus, erfindet neue hinzu, vermischt regional Auseinanderliegendes. Auf der Suche nach einem brasilianischen Nationalcharakter legt der Autor die indianischen und afrikanischen kulturellen Wurzeln des Landes frei, ein kühnes Beharren auf eine Identität, die verdrängt war von kolonialen portugiesischen beziehungsweise europäischen Dogmen.

In diesem Text wird die Sprache zum Kunstmaterial. Beeinflusst von Surrealismus und Expressionismus, durchbricht der Autor mit seinem assoziativen, sprunghaften Stil, mit Alliterationen und Wortvariationen, die oft den auf der Straße gesprochenen brasilianischen Slang des Portugiesischen aufgreifen, die Normen eines traditionellen Erzählens.


Besprochen von Gregor Ziolkowski

Mário de Andrade: Macunaíma. Der Held ohne jeden Charakter
Aus dem brasilianischen Portugiesisch und mit einem Nachwort und einem Glossar versehen von Curt Meyer-Clason
Suhrkamp, Frankfurt a. M. 2013
217 Seiten, 17.95 Euro