Der gute Ort und sein Wächter

Von Vera Block · 19.11.2011
In Potsdam gibt es den einzigen Friedhof, auf dem in Brandenburg Beisetzungen komplett nach jüdischen Glaubensregeln durchgeführt werden können. Verantwortlich für traditionelle Totenwaschungen und andere Rituale ist Felix Berul. Erst vor wenigen Jahren ist er aus Russland nach Deutschland gekommen.
Das Häuschen des Friedhofswärters am Eingang zum jüdischen Friedhof ist voller Menschen. Solange die Trauerhalle bis zum Beginn der Zeremonie geschlossen bleibt, kondolieren die Trauergäste der Familie hier. Zur Ablenkung führt Felix Berul den Enkel des Verstorbenen, einen kleinen Jungen, durch das Obergeschoss. Das Gebäude wurde kürzlich renoviert, manche Rohre liegen noch frei. Aber der Friedhofswärter will hier bald einziehen. Im Flur hat Felix Berul eine Leseecke eingerichtet. Im Regal stehen Gesamtausgaben von Flaubert und Dostojevski, eine Avicenna-Biografie, ein Band über den Mossad. Die meisten Bücher sind auf Russisch und schon älter. Felix Berul hat sie wohl 2005 beim Unzug von Moskau nach Potsdam mitgebracht.

"Als ich nach Deutschland kam, fing ich an, nach einer Möglichkeit zu suchen, wo ich mich noch einsetzen könnte ... Auf einem Sofa vor mich hin vegetieren – das kann ich nicht ... "

Felix Berul hat ein Diplom als Schiffsmechaniker und eines als Volkswirt, hat in der Tourismusbranche und im Versicherungswesen gearbeitet. Aber ein Umzug in ein fremdes Land, dessen Sprache man nicht beherrscht und ein Alter von 60 Jahren sind denkbar schlechte Voraussetzungen für einen Neustart.

"Als ich gesehen habe, in welchem Zustand sich der Friedhof befindet, habe ich das als eine Respektlosigkeit unseren Ahnen gegenüber empfunden. Ich fing an als Ein-Euro-Jobber ... Nebenbei habe ich regelmäßig Seminare und Fortbildungsveranstaltungen, auch speziell für jüdische Rituale, besucht ... 2006 habe ich ein Gewerbe als Bestattungsunternehmer angemeldet. Seitdem bin ich hier. Erstens, weil irgendjemand diese Arbeit ja machen muss. Zweitens: eine andere Arbeit als diese könnte ich nicht mehr machen - in meinem Alter. Und Drittens fühle ich mich innerlich verpflichtet. Das ist wie Buße tun ... "

Während der Bestattungszeremonie wirkt Felix Berul wie ein Dirigent. Er bleibt vorne, unweit des Sarges. Mit knappen Gesten und Blicken weist er Helfer an, begleitet die Prozession zum Grab und betet mit dem Rabbiner und den Angehörigen.

"Ganz oben, neben der Mauer, da gibt es eine Stelle, von wo aus man den ganzen Friedhof sieht. Ein unglaublicher Ausblick. Und weil alle Gräber in diese Richtung, in Richtung Jerusalem, ausgerichtet sind, habe ich, wenn ich dort oben sitze, den Eindruck, alle Stelen und Grabsteine würden zu diesem Punkt, zu mir gerichtet sein."
Nach der Beisetzung leert sich der Friedhof schnell. Der Friedhofsaufseher – immer noch im weißen Hemd, schwarzen Anzug und mit mattschwarzer Kippa auf dem Hinterkopf - sitzt sichtlich müde vor seinem Computer.
Neben dem Monitor – ein Gebetbuch auf Deutsch und Hebräisch, ein Foto einer alten Dame und ein russisch-deutsches Wörterbuch. Nostalgie kenne er nicht, erklärt Felix Berul. Wenn man freiwillig geht, soll man dazu stehen, sagt er und nickt dabei mit Nachdruck. Felix Berul hatte viele Gründe für die Emigration. Antisemitismus stand dabei nicht an erster Stelle. Aber das System an sich.

"Es ist schwierig, in einer Welt zu leben, die auf Respektlosigkeit beruht. Alles, was im heutigen Russland passiert, ist auf Respektlosigkeit den Menschen gegenüber aufgebaut. Ich meine allem voran die kommunalen Dienste. Man zahlt für etwas, was nicht stattfindet. Wie Müllabfuhr. Wer profitiert davon? Die kommunalen Dienste. Das ist nur ein kleines alltägliches Beispiel. Aber im Grunde demonstriert es die Respektlosigkeit den Menschen gegenüber."

Felix Berul ist kräftig gebaut, fast korpulent, trägt einen krausen grauen Vollbart und die Haare im Nacken etwas länger. An der Wand hinter seinem Bürostuhl hängen zwei Bilder. Auf dem einen die zueinander strebenden Hände von Gott und Adam, das berühme Michelangelo-Motiv. Auf dem anderen – zwei Böcke, die sich mit ihren Geweihen ineinander verkeilt haben

"Der Sinn ist der Gleiche. Es geht darum, was unser Leben im Grunde ausmacht. Unsere Wurzeln und unsere Kämpfe. Hier sprechen wir über Traditionen und hier steht die Realität im Mittelpunkt."
Das Foto mit den Böcken hat Berul selbst geschossen – in der Negev-Wüste in Israel. Er fotografiert viel. Auch auf dem jüdischen Friedhof. Felix Berul dokumentiert penibel alle Stelen und Grabstätten. Die 150 Jahre alten, verwitterten, aus schlichtem Sandstein und die neuen, üppig verzierten, aus glänzenden Granit. Das sei die Vorbereitung seines großen Projekts, erklärt der Friedhofswärter.

"Die Geschichte des Friedhofs schreiben. Vor einiger Zeit habe ich von einem Historiker das Register aller Bestattungen auf diesem Friedhof bekommen. Darin sind die Namen und die Gräber verzeichnet. Bei uns wurde zum Beispiel der erste Rabbiner Potsdams beerdigt. Nun wissen wir wo. Ich schreibe zu jeder Grabstätte kurze Geschichtsauskünfte, damit man nachher neben dem Grab ein Schildchen platzieren kann."
Felix Berul kramt ein Plastiktäfelchen hervor. Etwas größer als eine Postkarte, himmelblau, mit goldenem Schriftzug. Die Freunde in der alten Heimat, erzählt er, wissen wenig über seine neue Arbeit.

"In Russland ist das Geschäft mit der Bestattung eine fast kriminelle und ziemlich korrumpierte Sache. Hier ist es anders. Wenn ich in Russland von meiner Arbeit erzähle, sagen sie Oh! Du wirst ein reicher Mann werden. Andere sagen – oh, du bist ein Bandit geworden – aber das bin ich nicht mehr und nicht weniger als früher."

Felix Berul schmunzelt schelmisch und ist gleich wieder ernst. Er hat das Rentenalter erreicht, aber die Arbeit auf dem Friedhof aufzugeben – das kommt für ihn nicht in Frage.

"Das ist heilige Arbeit! Es interessiert mich nicht, was andere über meine Arbeit sagen, wichtig ist, wie ich dazu stehe. Das ist heilige Arbeit."