"Der Gott des Gemetzels"

Von Hans-Ulrich Pönack · 23.11.2011
"Der Gott des Gemetzels" zählt zu den ganz seltenen Filmen, bei deren man am Ende ganz und gar enttäuscht ist - weil schon und viel zu früh Schluss ist. Weil man sehr gerne mehr hätte. Solch eine wunderbare Perle von Film ist dieser Film. Über dem aber nicht nur der prominente Regisseurname des (inzwischen 78-jährigen) Roman Polanski steht (zuletzt: "Der Ghostwriter"), sondern auch und überhaupt der von Yasmina Reza.
Die am 1. Mai 1959 in Paris geborene Autorin hat Bühnenstücke wie "Kunst" und "Drei Mal Leben" geschrieben und zählt seit über einem Jahrzehnt zur weltweit meistgespielten zeitgenössischen Dramatikerin. Mit dem (Loriot-)Thema: Das Sezieren von normalem bourgeoisem Verhalten. Lächerlichem Verhalten. Allgemein, speziell und überhaupt. In "Kunst" zum Beispiel, ihrem dritten Stück, 1994 uraufgeführt und inzwischen in über 40 Sprachen übersetzt, wird die Freundschaft dreier Kerle durch den teuren Kauf eines Bildes auf die komische Probe gestellt. Denn dort –"Weißes Bild mit weißen Streifen" – ist buchstäblich und wahrhaftig nichts zu sehen. Außer diesem Weiß. Natürlich. Ein kopfschüttelnd dauerlachhaftes Szenarium. Immer schön am Rande des bürgerlichen Irrsinns. Und immer auch richtig saukomisch. Also wieder-erkennungskomisch.

"Le dieu du carnage", 2006 am Schauspielhaus in Zürich uraufgeführt, entwirft ein ähnlich komplexes, irrsinniges Bild. Das im Theater in Paris, bei Polanski allerdings in New York, im gutbürgerlichen Brooklyn, spielt. Weil aber Polanski dorthin bekanntlich nicht hinreisen darf, ohne verhaftet zu werden, für ihn ist die USA weiterhin "unsicheres Drittland", baute er die Wohnung, in der sich hier alles abspielt, in einem Pariser Studio auf. Und behauptet überzeugend - wir befinden uns in New York. Wo ein kleines Ereignis zum großen, zum tragischen mutiert. Zwei 11-Jährige haben sich im Park gekabbelt. Dabei hat der eine verloren. Bekam was auf die Gusche. Auf seine Zähne. Nichts Dolles, eigentlich. Doch was tagtäglich auf den Spielplätzen der jugendlichen Welt zum Ritual gehört, entwickelt sich hier zu einem speziellen Sonderfall.

Weil sich die Eltern der Kinder einmischen. Einschalten. Auf der einen Seite: Das Ehepaar des Opfers Ethan. Die im Buchhandel tätige Afrika-Expertin und Fast-Autorin Penelope Longstreet (Jodie Foster) und ihr Ehemann Michael, Marke netter Brummbär und Eisenwarenhändler (John C. Reilly). Der Probleme gerne gemütlich bei einem guten Getränk abbaut. Während seine liberale Ehefrau, die etwas abgehärmt und in gedeckter Strickware auch etwas lächerlich wirkende Penelope, schon auf "allgemeine Gerechtigkeit" besteht. Und deshalb die Eltern des Schlägers Zachary, die kompromissbereite Investmentbankerin Nancy Cowan (Kate Winslet) und ihren Rechtsanwalt-Ehemann und Pharma-Lobbyisten Alan (Christoph Waltz), zu sich eingeladen hat. Um die Dinge, auch natürlich versicherungsrechtlich, im persönlichen Gespräch zu klären.

Schnell ist das Schuldeingeständnis in die Maschine getippt. Nach ein paar Minuten scheint alles einvernehmlich geklärt zu sein. Schnell noch einen Kaffee sowie ein wenig Alkohol - und erledigt ist die kleine Panne. Im zwischenmenschlichen Nachwuchs-Miteinander. Doch dann zieht sich das hin. Mehr und mehr. Ein paar Worte hier, dort einige Na-Ja-Bemerkungen, ein Satz ergibt den anderen, und dieser an sich friedliche Familienbegegnungsnachmittag gerät mittenmal und plötzlich außer Kontrolle.

Auch, weil sich der irgendwie von Anfang an wenig interessierte Alan als tückischer Winkeladvokat und Berufszyniker erweist, zudem mit manischer Handy-Telefonitis ausgestattet. Der seine Geschäfte einfach und wie nebenbei hier weiterführt. Am Handy. Laut und deutlich. Was zu einigen nervlichen Anspannungen führt. Führen muss. Von wegen "rabiater" Unsensibilität. Meint sogar seine Ehefrau. Die sich aber auch immer zickiger aufführt, sich trotz Magenproblemen mit Alkoholika füllt und schließlich auf den kostbaren Kokoschka-Katalog von Penelope kotzt. Was die natürlich völlig die Fassung verlieren lässt. Man beginnt sich nun, intensiver auszutauschen. Wobei ständig die Positionen und Koalitionen wechseln. Es wird immer lauter. Und komischer. In und mit diesen Verbal-Duellen.

Unsere Zivilisation. Unser Verhalten. Unser Auftreten. Das, was wir zeigen gegen das, was wir sind. Wildsäue. In braven, formvollendeten Konventionen gut verpackt. "Das, was wir Moral nennen, ist ein Konstrukt. Im Grunde sind wir alle primitiv. Jeder von uns kann zum Monster werden", stellt Jodie Foster im Presseheft klar. "Die Komödie ist realistisch, auch wenn sie satirisch überspitzt ist", zieht sie Bilanz. Über dieses spitzfindige, ironische und schreikomische Treiben dieser vier anständigen Erwachsenen. Die sich liebend gerne – und vor allem schnell, im Vorübergehen, weil, man will ja schnell wieder zurück in den eigenen Stress – ihre politische Korrektheit im gesellschaftlichen Umgang bestätigen wollen, öffentlich machen wollen, und sich plötzlich in einem Disput um ihre eigenen Unzulänglichkeiten befinden. Ihre Befindlichkeiten erleben. Austragen. Müssen. Mit ihren vielen dauernden bohrenden, tiefenpsychologischen Fragen. Um gerecht und Gerechtigkeit. Um das Scheusal in einem drin. Das immer mehr zum lächerlichen wie komischen Vorschein kommt.

Roman Polanski und seine Co-Drehbuchautorin Yasmina Reza setzen auf exzellente, bissige Pointen. Ganz, ganz feine, sich behutsam wie wirbelnde Pointen: exquisit durchtriebene, hintergründige, herrlich ausufernde, natürlich boshafte. Und vor allem - gigantisch lachhafte. Selten im Kino in letzter Zeit so viel schön-klug gelacht. Und gedacht. Mitgedacht. Motto: Die vielen Defizite in uns. Von uns. Über uns. Den Macken-Mensch. Mit seinen grandiosen amüsanten Psychosen.

Das funktioniert so köstlich, weil die Vier gnadenlos brillant spielen. Und sprechen: Jodie Foster als ewig betroffene intellektuelle Weltverbesserin und ständiger Gutmensch mit viel faszinierender Seelen-Performance; Kate Winslet als hin- und hergerissene Mitmachehefrau zwischen Wahr und Unwahr; Christoph Waltz, der nach seinem "Inglorious Basterds"-Oscar-Glanz endlich in der richtigen (internationalen) Darstellerliga angekommen ist, gibt den coolen Besserwisser mit spannender Gleichgültigkeitsschärfe, während John C. Reilly, seit 2007, seit "Walk Hard – Die Dewey Cox Story", im besseren Hollywood-Licht, den gutmütigen Teddybären mimt, den man besser kulturell nicht hätte so eindringlich kitzeln, anpinkeln, also aufwecken sollen. Denn so angepikst entpuppt er sich als purer Magenbitter. Mit klobigem Männerschwung.
Also alle: Mit Klasse-1-A-Körper-Sprache. Als hochkarätige verbale Bewegungsmelder.

Mensch und Moral. Kultur. In der Familien-Stimmung. Die Couch als Minenfeld: "Der Gott des Gemetzels" ist ein toll-blitzendes, großartiges Meisterstück. Als brillant-bissiges Vergnügen.

Deutschland/Frankreich 2011 - Originaltitel: "Carnage", Regie: Roman Polanski, Darsteller: Jodie Foster, Kate Winslet, Christoph Waltz, John C. Reilly, ab 12 Jahren, 79 Minuten

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