Der Golem im Fluss

Rezensiert von Helmut Böttiger · 08.12.2005
In seinem Roman "Die Reise über den Hudson" erzählt Peter Stephan Jungk, Sohn des Zukunftsforschers Robert Jungk, von den psychischen Dispositionen der Nachkommen von Holocaust-Überlebenden. Die zeigen sich auch bei der Hauptfigur Gustav, der eines Tages beim Überqueren des Hudson seinen toten Vater als riesenhafte Skulptur im Fluss zu sehen glaubt.
Dieses Thema ist in letzter Zeit öfter aufgetaucht: die nachgeborenen jüdischen Kinder erinnern sich an die Generation ihrer Väter, an die ihnen nur vom Hörensagen bekannte Verfolgung und Flucht vor den Nazis, meistens in die USA, vorgetragen in dem tragisch-ironischen Slapstick, mit dem man das Leiden auf Distanz halten und vergegenwärtigen möchte.

Doch Peter Stephan Jungks Buch ist raffinierter, wagemutiger und interessanter als die leicht weg zu schmökernden Texte etwa von Irene Dische oder Gila Lustiger. Er geht aufs Ganze, und er findet auch ein eindringliches literarisches Symbol für den ewigen, kraftstrotzenden, lebenshungrigen Vater, den der Sohn niemals wird einholen können - eine unerwartete und höchst kunstvolle Kafka-Reminiszenz.

Die Familie Rubin stammt eigentlich aus Wien, aber dann ging es kreuz und quer über den Globus: Es geht neben Wien vor allem um Los Angeles, New York und Berlin.

Gustav, der die Geschichte erzählt, wollte eigentlich Historiker werden, hat sich dann aber doch mit einem Pelzhandel in Wien zufrieden gegeben. Er kommt auf dem Flughafen in New York an, wo ihn seine Mutter schon erwartet, nimmt sich mit ihr einen Leihwagen, um zu seiner Familie zu fahren, und gerät mit ihr auf der Tappan Zee-Brücke in einen riesigen Stau.

Die 82-jährige Mutter, eine typische "jüdische Mamme", ist schlechthin unerträglich - besserwisserisch, launisch, dumm und belehrend zugleich, eine Nervensäge ohnegleichen, und daneben taucht in langen Erinnerungsschüben immer wieder der Vater auf: Ludwig Rubin, ein berühmter Naturwissenschaftler, gefragter Interviewpartner aller Medien und ständig unterwegs, ein Monstrum an Vitalität.

Marcuse, Adorno und Canetti waren in Gustavs Elternhaus zu Gast, Fritz Lang ebenso wie Charlie Chaplin, und Gustavs Vater war nicht nur im Beruf ein Ass, sondern auch im Liebesleben: Ständig schiebt er "Nummern", von denen er seinem schwachen und antriebslosen Sohn auch noch erzählt.

Im Stau auf der Tappan Zee Brücke gibt es jedoch einen ungeahnten visionären Schub: Resigniert schaut Gustav in die Schlucht hinunter, und er erblickt das Unfassbare: den riesenhaften Körper seines vor elf Monaten verstorbenen Vaters, ausgestreckt über die Landschaft wie ein antiker Flussgott, wie ein Golem.

Das Trauma und die Faszination sind konkret geworden, und Peter Stephan Jungk, der Autor, schafft es, dieses Bild auf wunderbare Weise in der Schwebe zu halten: Ist es nur eine Wahnvorstellung von Gustav und seiner Mutter, dieses Bild des Vaters im Fluss? Oder gibt es doch so eine Riesenskulptur da unten? Manche Aussagen von Leuten, die mit im Stau stehen, lassen darauf schließen.

Jedenfalls ist eines klar: am Ende der Brücke, wenn er am Kopf des riesenhaften Vaters angelangt sein wird, hat Gustav sein Leben aufgearbeitet, hat er sich vielleicht zur Freiheit durchgerungen - doch das geschieht nur in Andeutungen, poetisch und vor allem durchaus witzig erzählt. Es könnte einer der besten Woody-Allen-Filme sein, mit ausgesucht grotesken und surrealen Momenten.

Aber dieses Kafka-Monstrum, diesen Golem im Fluss: Das kann man eben nicht bebildern, das kann nur die Literatur. "Die Reise über den Hudson" ist ein erstaunlicher Roman, in dem wir wirklich einmal etwas über die psychischen Dispositionen der jüdischen Nachgeborenen erfahren.


Peter Stephan Jungk: Die Reise über den Hudson
Roman. Verlag Klett-Cotta, Stuttgart 2005.
226 Seiten, EUR 19,50