Der Gläubiger in der Literatur

Hai und Halsabschneider

Das Denkmal von William Shakespeare, aufgenommen im Park an der Ilm in Weimar (Thüringen).
Schuf mit dem Shylock eine der berühmten Gläubigergestalten der Literatur: der Dramatiker William Shakespeare © picture alliance / dpa
Von Florian Felix Weyh · 23.06.2015
Ob Shylock, Balzacs Gobseck oder Bankier Kesselmeyer aus den Buddenbrooks - der Gläubiger hat in der Literatur einen üblen Leumund. Doch es gibt einen Weg, wie er seine Popularität steigern kann - nachzulesen bei Nietzsche.
Shylock: Wenn ein Jude einen Christen beleidigt, was ist seine Nächstenliebe? Rache. Wenn ein Christ einen Juden beleidigt, was muss sein seine Geduld nach christlichem Vorbild? Rache! Die Bosheit, die ihr mich lehrt, die will ich ausüben!
Indem er auf einen vertraglichen Passus besteht: Keinen Zins hat sich der Geldverleiher Shylock für sein Darlehen an einen venezianischen Kaufmann ausbedungen, sondern im Falle des Bankrotts das Recht, dessen Bürgen ein Pfund Fleisch aus dem Körper zu schneiden. Da heißt es wohl besser: Fersengeld geben.
"'Die Ferse zeigen', ist eine alte Umschreibung für 'fliehen', vor allem für das Weglaufen unter Hinterlassung von Schulden."
Schreibt das "Wörterbuch der deutschen Umgangssprache" und führt noch andere Redensarten aufs Schuldenmachen zurück:
"Etwas auf dem Kerbholz haben = nicht schuldlos sein. Hergenommen von dem Holzstab, auf dem man früher Leistungen oder Forderungen einritzte. (...) Loseisen = jemandes Schulden bezahlen. Man löst den Betreffenden aus der Macht der Gläubiger wie ein im Eisen gefangenes Tier."
Der Geldverleiher als lächerliche oder teuflische Figur
Umgangssprache verrät, was Menschen wirklich denken. Nicht derjenige, der eine Vertragserfüllung schuldig bleibt, sondern derjenige, der sich im Recht befindet mit seinem Pochen auf Zins und Tilgung, gilt seit jeher als Spitzbube und Bösewicht. Volksmund und Literatur bilden da einen Gleichklang. Immerhin, siebzig Jahre nach Shakespeares Shylock macht Molière im "Geizigen" den Geldverleiher nur lächerlich, statt ihn zu diabolisieren. Der komplexe Kreditvertrag enthält ein Disagio -
"einen Auszahlungsabschlag"
von wahrhaft skurrilem Zuschnitt. Der Kreditnehmer muss nämlich jede Menge Kram, Plunder und Müll übernehmen, dessen überteuerter Wert ihm auf die zurückzuzahlende Gesamtsumme angerechnet wird:
"Von den verlangten fünfzehntausend Livres kann der Darleiher in barem Gelde nur zwölftausend zahlen und muss für die fehlenden dreitausend der Borger die nachstehend verzeichneten Mobilien, Schmucksachen, Kostbarkeiten und Geschmeide annehmen. (...) Eine Bettstelle mit vier Füßen und olivenfarbigen Gardinen, auf welche Streifen von ungarischen Kirchenspitzen sehr sauber aufgenäht sind, nebst sechs Stühlen und einer Paradedecke vom nämlichen Stoff: alles wohl konditioniert und mit rot oder blau schillerndem Taft gefüttert; Item, ein Betthimmel von gutem, trocknen rosenblätterfarbnen Serge d'Aumale, nebst Garnierung und Fransen von Seide."
Und so weiter. Das ist Satire, doch dieser Strang wird in der Weltliteratur kaum weiterverfolgt, während sich Shylocks Grausamkeit als Zentralmotiv des Geldverleihens behauptet.
Zinsen sind Folterinstrumente, sagt die Weltliteratur
Zugrunde liegt dem eine grundsätzliche Spaltung: Unser weltliches Kulturerbe aus der römischen Antike – das, aus dem sich Rechtsstaat und letztlich auch Kapitalismus entwickelten – sieht Geldverleihen nüchtern pragmatisch:
"Nihil dolo creditor facit, qui suum recipit."
"Ein Gläubiger, der das Seine zurücknimmt, handelt nicht arglistig", heißt es in den Digesten, den Vorläufern unserer heutigen Gesetzbücher. Das Alte Testament allerdings schlug – Psalm 15 – eine ganz andere Richtung ein:
"Wer sein Geld nicht auf Wucher gibt und nimmt nicht Geschenke gegen den Unschuldigen: Wer das tut, der wird wohl bleiben."
Heute steht da statt "Wucher" oft nur "Zins", ganz der belletristischen Linie folgend, dass Wucher – also ein weit überzogener Zins – mit Zinsen generell in eins gesetzt wird. Zinsen überhaupt, so die Autoren der Weltliteratur, sind Folterinstrumente. Doch seien wir gerecht: Auch Darlehensnehmer kriegen ihr Fett weg, vor allem, wenn sie dem Adel entstammen und das geliehene Geld nutzlos verprassen. Das hindert aber selbst einen Realisten wie Balzac nicht daran, den – natürlich jüdischen – Geldverleiher Gobseck aus der "Menschlichen Komödie" in antisemitischen Stereotypen zu zeichnen:
"Ich liebe es, die Teppiche der feinen Leute zu beschmutzen, nicht aus niedriger Gesinnung, sondern um sie die Kralle des Schicksals fühlen zu lassen."
Ein Kredithai namens Shark, was sonst?
90 Jahre später dramatisierte der deutsche Expressionist Walter Hasenclever Balzacs Novelle, und obwohl der Autor alles andere als ein Nazi war, sondern ihnen später zum Opfer fiel, ist sein Gobseck eine noch geldgeilere und mordlustigere Figur als beim vergleichsweise abgewogenen Balzac. Hasenclevers Geldverleiher badet sogar im Golde wie später Dagobert Duck. Apropos Trivialkultur: In der erfolgreichsten deutschen Kinoproduktion aller Zeiten, "Otto, der Film", treibt ein widerwärtiger Kredithai namens Shark sein Unwesen – und das kommt nicht von ungefähr, sprich: aus der Hochkultur. Hatten doch schon Dostojewski mit der Pfandleiherin Aljona Iwanowna,
die so böse ist, dass Raskolnikow sie in "Schuld und Sühne" gewissenlos umbringen darf,
und Thomas Mann mit dem Bankier Kesselmeyer in den "Buddenbrooks",
dessen Unterkiefer nur zwei Zähne enthält, weswegen er ständig "abenteuerliche Grimassen" schneiden muss
für ein groteskes Zerrbild des Gläubigers gesorgt. Nach dem Ersten Weltkrieg erreichte seine Anti-Gestalt – siehe Hasenclever – ihren Zenit, ausgerechnet zu dem Zeitpunkt, da die Gläubiger des Kaiserreichs – das deutsche Bürgertum – selbst hatten erfahren müssen, wie schlimm es sein kann, wenn man verliehenes Geld verliert.
Eine wahrhaft heroische Lösung weiß Nietzsches "Genealogie der Moral"
In der Folge las das Bürgertum offenkundig zu viel Nietzsche – doch nicht die richtigen Stellen des Übermensch-Philosophen. Der nämlich postulierte in seinem Essay "Zur Genealogie der Moral" eine wahrhaft heroischen und in der heutigen Griechenland-Krise unser Selbstbild nicht beschädigende Lösung:
"Es wäre ein Machtbewusstsein der Gesellschaft nicht undenkbar, bei dem sie sich den vornehmsten Luxus gönnen dürfte, (...) ihren Schädiger straflos zu lassen. 'Was gehen mich eigentlich meine Schmarotzer an?' dürfte sie dann sprechen. 'Mögen sie leben und gedeihen: dazu bin ich noch stark genug!'"
Denn Gnade, sagt Nietzsche, ist das Vorrecht des starken Gläubigers im Verhältnis zum schwachen, armseligen Schuldner. Nein, nicht nur Vorrecht, sondern besser:
"Sein Jenseits des Rechts."
Schwer zu schlucken, aber vielleicht der Ausweg: Das miserable Image des Gläubigers ließe sich beheben, indem er darauf verzichtete, Gläubiger zu sein ... und zum Schenkenden würde. Mit Recht hat das allerdings nichts mehr zu tun.