Der Frühförderungswahn

Von Gaby Onnebrink · 09.08.2005
Montag Babymassage, Dienstag Pekip-Treffen, Mittwoch musikalische Früherziehung, Donnerstag Krabbelgruppe, Freitag Babyschwimmen. Säuglinge haben immer häufiger ein Mammut-Programm wie Mini-Manager. Angebote zur Frühförderung von Babys boomen. Doch Experten warnen vor zu viel Stimulation in den ersten Lebensmonaten.
" Wir machen so, so, so, wir machen so, so, so,
lass die kleinen Hände tanzen,
wir machen so, so, so, wir machen so, so, so,
drei Mal drehen, dann sind sie weg!"
Freitagvormittag in einer typischen PeKiP-Gruppe in Deuschland. Paul, Emily, Celine und Charlotte krabbeln auf Gummimatten um die Wette, räumen Kisten mit Bausteinen aus und folgen den Fingerspielen ihrer Mütter. Ein PeKiP-Treffen nach dem Prager Eltern-Kind-Programm des tschechischen Kinderarztes Jaroslav Koch zu besuchen, gehört mittlerweile zum Image einer guten und engagierten Mutter: Hier lernt sie, wie sie die Entwicklung ihres Kindes unterstützen kann. Charlotte ist acht Monate alt und hat schon einen richtigen Stundenplan. Mutter Michaela geht mit ihr nicht nur zum PeKiP-Treffen, auch Babymassage, Babyschwimmen und eine weitere Krabbelgruppe stehen auf dem Programm:
" Manchmal muss man sie aus dem Schlaf reißen und den Tagesablauf ein bisschen danach richten, wie die Kurse liegen. Wenn wir mal eine Woche nichts haben, fehlt uns was und ich merke, dass sie hibbelig ist und zu Hause unausgelastet. "
Mehr als 2000 PeKiP-Gruppen-Leiterinnen gibt es in Deutschland und es werden immer mehr, denn die Kurse sind äußerst begehrt. Heidi Zorbach nimmt Anmeldungen für ihre Gruppen in Frankfurt am Main vor der Geburt nicht an. Um sicher zu gehen, dass sein Sprössling auch bestimmt einen Platz bekommt, meldete ein Vater ihn schon direkt aus dem Kreißsaal an. Und manchmal planen Eltern dann auch das weitere Leben entsprechend durch:

" Erstaunlicherweise kommt immer wieder: jetzt schon die Anmeldung in Privatschulen, es muss die und die Sportvereine besuchen, Musikunterricht haben, Abitur ist Voraussetzung, Studium im Ausland - also ganz klar durchgeplant."
In anderen Ländern beginnt das Bildungsprogramm für Babys schon im Mutterleib. Die Prenatal-University in Kalifornien, eine "Ungeborenen"-Universität, bietet ab dem Fünften Monat ein "Föten-Training". Der Fötus soll durch seine Mutter erste Worte, die Tonleiter und sogar Zahlen lernen: Mama in spe sagt "drei" und klopft sich drei Mal auf den Bauch. Japanische Babys lernen ab 16 Monaten Mathematik an Kumon-Schulen, nach der Theorie des japanischen Mathematikers Toru Kumon, solche Kurse werden mittlerweile auch in Deutschland immer beliebter. Was in der Babyzeit beginnt, geht im Kleinkindalter weiter. Senta Schmieder ist Erzieherin in einer Kindertagesstätte in Karlsruhe, sie beschreibt Kinder, die ein durchorganisiertes Bildungsprogramm gewohnt sind, so:
" Sie möchten beschäftigt werden, sie suchen Angebote und fordern sie auch ein. Sie können mit Langeweile nicht umgehen, auch die Selbstständigkeit wird völlig abgebremst, es wird ihnen nicht ermöglicht, das eigene Kinderleben zu leben."
Die Folge sind dann häufig Spannungen und Konflikte in den Familien. Und vor allem erreichen die Eltern mit ihrem Bildungsmarathon nicht das angestrebte Ziel: zu viel Stimulation behindert das Lernen schon im Säuglingsalter, haben Neurobiologen herausgefunden. Überreizte Babys kommen häufig in die immer zahlreicher werdenden Schreiambulanzen in Deutschland. Der Körperpsychotherapeut Thomas Harms leitet eine solche Einrichtung in Bremen. Er sieht den Bildungswahn bei den Jüngsten als eine Art "Eltern-Rallye":
" Eltern stehen in Konkurrenz zueinander. Und das heißt: Förderprogramme sind eine Art Ausdruck dieser Konkurrenz-Dynamik. Das Kind ist Teil der Selbsterfüllung der Eltern - und so wie der Schönheitskult durch Fitnessstudios einem schönen gestählten Körper eine gute Oberfläche bieten will, so wird das Kind der Repräsentant der Eltern in der Öffentlichkeit."
Schon in den PekiP-Gruppen gilt also das Leistungsprinzip, auch wenn die sozialpädagogisch ausgebildeten Leiterinnen das Gegenteil vermitteln wollen. PISA prägt schon die Krabbelgruppen.
Charlotte übt mittlerweile erste Grundzüge der Geometrie: " Das ist gerade das Entdecken von Dosen, wo was drin ist, verschiedene Gegenstände, kleine, große, runde, eckige, das Entdecken, dass man was rausholen kann und was reintun kann!"
Eine Erkenntnis, die Kinder Jahrtausende lang ganz ohne Kurse gewonnen haben. Doch mittlerweile trauen immer weniger Eltern ihren Kindern zu, Kompetenz aus sich selbst heraus zu entwickeln, sagt Thomas Harms von der Bremer Schreiambulanz:
" Diese Form des Bewusstseins, dass das Kind nachgebessert, ausstaffiert und gefördert werden muss, beinhaltet ja: Das Kind ist nicht hinreichend ausgestattet mit Fähigkeiten und Kompetenzen. Und das bietet dann den Boden für massenweise Beratungs- Förderprogramme, die wir allerorten jetzt sehen. "
Die beste Möglichkeit, Babys zu fördern, sieht die Entwicklungspsychologin Maria von Salisch von der Uni Lüneburg darin, sie ganz genau zu beobachten:
" Man kann sie nur bilden mit den Fragen, die sie selber haben. Die Kunst besteht darin, die Fragen des Babys zu erkennen. Wichtig ist dabei aber auch, dass man das Baby von der Einstellung her als aktives und auch als denkendes Wesen mit eigenen Absichten und Wünschen behandelt. Diese Haltung ist ganz zentral für jede Art von Förderung. "
Also ganz einfach zurück zu den Wurzeln, auf den gesunden Menschenverstand hören und sich vom eigenen Herzen statt in Kursen leiten lassen? Auf jeden Fall, meint Thomas Harms, denn genau diese Fähigkeiten scheinen immer mehr Eltern von heute verloren zu haben:
" Wir beobachten das massenhaft in den Beratungsstellen und therapeutischen Einrichtungen: dass die Eltern den Zugang zu ihren intuitiven Ressourcen des Erspürens und Erfühlens der Bedürfnisse des Säuglings und der Kleinkinder verloren haben. Das Gefühl, ich hab was für mein Kind getan, bietet eine scheinbare Sicherheit in einem unsicherer werdenden Erziehungsraum. "

Für Paul, Emily, Celine und Charlotte ist das Programm für heute beendet. Sie sitzen müde auf Mamas Schoß und freuen sich auf ein Nickerchen:

" Schluss für heut' – macht's gut, ihr kleinen Leut'!
Wir wollen jetzt nach Hause gehen
Bis wir uns dann wieder sehen.
Schluss für heut', macht's gut, ihr kleinen Leut'!
Die rechte und die linke machen beide winke winke ..."

Das Gespräch zum Thema mit Friedrich Lösel, Professor für Psychologie an der Universität Erlangen, Nürnberg können Sie in der rechten Spalte als Audio hören.