Der Friseursalon als utopischer Ort

Rezensiert von Carsten Hueck · 29.07.2005
Die israelische Autorin Lizzie Doron schildert in ihrem Roman "Ruhige Zeiten" das Schicksal von Holocaust-Überlebenden in Israel. Sie treffen sich im Friseur-Salon von Sajtschik, auch ein Überlebender der Todeslager. Als Sajtschik stirbt, bricht für die Hauptfigur Leale alles zusammen, was ihr Halt gegeben hat.
Der Holocaust, schrieb einst Literaturnobelpreisträger Imre Kertész, sei eine "Subkultur", eine "durch kultischen Geist zusammengefügte seelische und emotionale Gemeinschaft". Lizzie Doron, 1953 geborene israelische Autorin, porträtiert in ihrem neuen Roman "Ruhige Zeiten" feinfühlig und kenntnisreich jene Subkultur: Überlebende des Massenmords an den europäischen Juden. Männer und Frauen, die in Israel wohnen, doch zuhause sind in ihren Erinnerungen.

Ich-Erzählerin Leale ist um die Sechzig. Von ihren Eltern als kleines Mädchen einst einer polnischen Bäuerin anvertraut, überstand sie Krieg und Verfolgung in einem Erdloch. "Ich kann tief, tief in der Erde leben, ohne Essen, ohne Wasser, ohne Licht, das ist es, was ich am besten kann", sagt sie später. Da ist sie schon in Israel, hat, gerade volljährig, geheiratet und einen Sohn bekommen. Eine Familie zu gründen, war ihr größter Wunsch, denn Eltern und Verwandte hat sie verloren.

Leales Ehemann Srulik ist doppelt so alt wie sie. Auch er stammt aus Polen, ein Überlebender der Todeslager. Doch Srulik stirbt schon nach wenigen Jahren. Sein Freund Sajtschik holt Leale in seinen Friseursalon. "Man braucht einen Beruf, um zu überleben", schärft er ihr ein. Sajtschik weiß, wovon er spricht. Auch er ist im Lager gewesen, das Erlebte erwähnt er nicht, doch beim Zusammenfegen abgeschnittener Haare beginnt er zu zittern.

Dreißig Jahre lang ist Leale Sajtschicks Mitarbeiterin, Maniküre und Vertraute. Eine unausgesprochene Liebesgeschichte verbindet die beiden. Als schließlich auch Sajtschik stirbt, bricht für Leale alles zusammen, was ihr im Leben Halt gegeben hat. Der Friseursalon war das Zentrum ihres Daseins. Dort trafen sich die Versprengten des Holocaust, europäische Juden, die nicht in die zionistisch geprägte Gesellschaft des jungen Staates Israel passten. Jeder von ihnen "eine Geschichte, die niemand erzählen will und niemand hören." Doch im Friseursalon sprechen diese Menschen. Teilen sich mit, wissen sich verstanden auch in Schweigen und Wahnsinn.

Der Friseursalon ist bei Lizzie Doron Schtetl, Ghetto und utopischer Ort. Er schirmt von der Außenwelt ab, ermöglicht aber Begegnung und Kommunikation. Auch Träumerei und Verwandlung. Betritt man das geordnete Reich der Düfte, Shampoos und Tinkturen, begleitet einen die Hoffnung, als ein Anderer wieder hinaus zu gehen. Gepflegt und schön. Man lässt sich Gutes tun und hofft, durch den neu verliehenen Glanz bestenfalls auch die nächsten Tage noch zu erhellen.

Die Autorin, selbst Tochter einer Holocaust-Überlebenden, erhielt für diesen Roman 2003 den Preis der Gedenkstätte Yad Vashem. Ihre Texte werden in israelischen Schulbüchern abgedruckt. Wie auch in ihrem ersten ins Deutsche übersetzten Roman "Warum bist du nicht vor dem Krieg gekommen?", erschienen im vergangenen Jahr, schildert Lizzie Doron ohne Wertung, mit Respekt und leisem Humor das Schicksal derjenigen, deren Leben - nicht ausschließlich, aber immer auch - Leben nach und mit dem Tod ist.

Der Sohn der Protagonistin lebt in den USA. Er verkörpert die "Zweite Generation", zu der auch die Autorin selbst gehört. Das Weiterwirken des Holocaust nach Jahrzehnten, nicht nur bei den Betroffenen, sondern auch in ihren Kindern, ist in wenigen Passagen nachhaltig charakterisiert. Lizzie Doron vermittelt Innenansichten eines Traumas. Und verbindet in diesem Roman die Tradition jiddischer Erzähler mit dem Wissen um Unsagbares.

Es sind die Andeutungen, die Leerstellen, die den Roman so eindringlich machen. Nähe von Leid und Lebensmut in den Figuren, von Warmherzigkeit und Depression. Und es ist die Demut einer Nachgeborenen, die sich beobachtend einfühlt in Schicksale, die auch ihr eigenes Leben bestimmt haben.

Lizzie Doron: Ruhige Zeiten
Aus dem Hebräischen von Mirjam Pressler
Suhrkamp Verlag, 16,80 €