Der Fall Mortara

Entführung im Namen der Kirche

Zeitgenössisches Porträt von Papst Pius IX. (1846 bis 1878)
Zeitgenössisches Porträt von Papst Pius IX.: Auf seine persönliche Anweisung geht die Entführung Edgardo Mortaras zurück. © picture-alliance / dpa / Bildarchiv / Fritz Fischer
Von Kirsten Serup-Bilfeldt · 08.11.2015
Noch im 19. Jahrhundert war die katholische Kirche davon überzeugt, dass ein notgetauftes Kind auf keinen Fall bei seiner jüdischen Familie aufwachsen könne. Die von Papst Pius IX. veranlasste "Entführung" Edgardo Mortaras wurde europaweit zum Politikum.
Eigentlich sind es die typischen Symptome einer Grippe, die in diesen Spätsommertagen des Jahres 1852 in Bologna grassiert: Husten, Schnupfen, eine laufende Nase, eine fieberheiße Stirn. Und doch, so denkt sich das Dienstmädchen Anna Morisi sorgenvoll, könnte es ja etwas Schlimmeres sein, etwas, das das Leben des elf Monate alten Sohnes ihrer Herrschaft bedrohen könnte.
So besprengt die fromme Katholikin Anna entschlossen das wimmernde Baby mit Wasser und spricht die Taufformel, mit der ja jeder Christ in einem Notfall die Taufe vollziehen kann. Dass dieser kleine Täufling Edgardo Mortara jedoch Sohn einer jüdischen Familie ist, ist für das unbedarfte Hausmädchen nicht von Belang. Die Tat der Anna Morisi hat weitreichende Folgen. Und die rütteln nicht nur an den Grundfesten des Vatikanstaates; sie führen auch zu Verwerfungen in etlichen europäischen Staaten. Denn fünf Jahre nach diesem Ereignis berichtet Anna Morisi ihrem Beichtvater von ihrer geheimen "Taufaktion". Der trägt die Sache weiter. Professor Rudolf Lill:
"Diese Nachricht wurde nach Rom gebracht... Und da hat der Papst gesagt... wenn ein Kind getauft worden ist, dann ist es für sein Heil absolut notwendig, dass es auch weiter katholisch aufwächst..."
Der Historiker Rudolf Lill:
"Und wenn die Eltern das nicht tun - in diesem Fall, weil sie ja gar keine Katholiken sind - dann muss man das Kind in einen katholischen Kontext holen - auch zwingen - und es dann katholisch erziehen."
Mit Entführungsaktion" im Recht gewesen?
Folglich erscheinen am Abend des 23. Juni 1858 mehrere Polizeibeamte bei der Familie Mortara, teilen den fassungslosen Eltern auf persönliche Anweisung Papst Pius IX. mit, dass der kleine Edgardo nun Christ sei und nicht in einer jüdischen Familie bleiben könne. Unter dem Schreien und Weinen der Mutter greifen sie den Sechsjährigen, nehmen ihn mit nach Rom in ein Institut der Katechumenen, wo er ein zweites Mal getauft wird und den Namen Pio - nach Papst Pius IX. - erhält. Rein formaljuristisch, so Rudolf Lill, sei der Papst mit der Anweisung zu dieser "Entführungsaktion" im Recht gewesen:
"Der Staat des Papstes umfasste bis ins 19. Jahrhundert - mit Ausnahme der napoleonischen Unterbrechung - nicht nur Rom und Latium, sondern die Marken und die Romagna; Bologna und Ancona waren nach Rom die beiden größten Städte des Kirchenstaates..."
Folglich gilt in ihnen auch das Recht des Kirchenstaates, das weitgehend an das kanonische Recht angeglichen ist. Der Papst hat eine Doppelfunktion:
"Er war der Souverän des Kirchenstaates und er war der Papst und als Papst befolgte er in allen Dingen, die mit Sakramenten zusammenhingen das kanonische Recht... In diesem Kontext muss man die Geschichte einordnen. Und der Papst sah sich wohl verpflichtet, gegenüber diesem armen Knaben alle Regeln anzuwenden, die in der katholischen Kirche für solche Fälle sehr spät ausgearbeitet worden waren. Denn diese erstarrte Sakramentsauffassung hat ja nichts mit den Anfängen der Sakramente in der alten Kirche zu tun... Das heißt: man stellte die behauptete objektive Kraft des Sakraments über das Naturrecht, über das menschliche Recht der Freiheit und Selbstbestimmung."
Illiberal, reaktionär und menschenfeindlich
Mit dieser Aktion bringt Pius IX. die beiden verbliebenen katholischen Großmächte in Europa, Frankreich und Österreich gegen sich auf. Sie fordern den Papst auf, das Kind umgehend zu seinen Eltern zurückzuschicken. Vergeblich. Denn Pius IX. ist davon überzeugt, dass nur eine autoritäre Haltung und die Zurückweisung aller "modernen" Ideen geeignet sind, die katholische Kirche durch die von Revolution und Liberalismus ausgelöste Krise zu führen.
Der Skandal ist also da. Die gesamte liberale Presse in Europa greift den Fall auf, prangert die katholische Kirche als illiberal, reaktionär und menschenfeindlich an. Und selbst der päpstliche Staatssekretär Giacomo Antonelli warnt den Pontifex eindringlich vor den möglichen politischen Folgen seines Handelns:
"Der reaktionäre Kirchenstaat im Mittelpunkt der liberalen Kritik in ganz Europa... Da erfolgte nun diese Tat, die den Obskurantismus des Papstes offenbar vor aller Welt zu beweisen schien. Der Fall Mortara wurde als Symptom für die Rückständigkeit und die Borniertheit des römischen Papsttums bezeichnet."
Seltsam nur: In all diesem Gezänk gerät die Hauptfigur des Dramas fast aus dem Blickfeld: Edgardo Mortara nämlich hat sich im Schoss katholischer Institutionen so wohl gefühlt, dass er als Erwachsener beschließt, nicht zu seiner Familie zurückzukehren, sondern der Kirche treu zu bleiben. So tritt er im Spätsommer 1865 - vor 150 Jahren - in den Orden der Augustiner-Chorherren ein:
Edgardo Mortara macht als Prediger Karriere
Seinen Weg hat Edgardo Mortara nie bereut. In seinem Orden macht er als beliebter Prediger und Seelsorger Karriere und steigt später zum Theologieprofessor auf. Lange wirkt er im Kloster Neustift bei Brixen in Südtirol. Um ihn vor dem Zugriff der Nationalsozialisten zu schützen, schicken ihn seine Ordensoberen während des Dritten Reichs nach Belgien:
"Denn nach den Gesetzen des Dritten Reichs war er ja 'Volljude'. Und dort ist er 1940 gestorben. Er ist fast 90 Jahre alt geworden."
Die harte Haltung eines Papstes, der unfähig war, politisch zu denken, hat den Antiklerikalismus in vielen europäischen Ländern angeheizt. Pius IX. führte ein absolutistisches Regime, das seine Kirche in eine dogmatische Erstarrung lenkte:
"Und ein Opfer dieser Erstarrung wurde Edgardo Mortara."