Der Fall Kurnaz oder: Die erschütternde Rezeption eines Buches

Von Alan Posener · 23.04.2007
Helmut Kuhn ist Romanschriftsteller. In seinem ersten Roman ging es um einen verschwundenen Atlantik-Segler. In seinem zweiten Roman geht es um einen Mann, der in Pakistan verschwindet. Er wird auf einer Insel in einer Art KZ gefangen gehalten, wo er von sadistischen Wärtern auf jede erdenkliche Art gequält wird.
"Wisst ihr, was die Deutschen mit den Juden gemacht haben? Das machen wir jetzt mit euch", sagt einer der Folterknechte. Damit ist der Ton des Romans vorgegeben: ein Unschuldiger ist in eine Maschinerie des Todes geraten, wie in dem US-Splatter-Movie "Hostel". Den Gefangenen werden von entmenschten Ärzten Gliedmaßen amputiert und Zähne gezogen. Ansonsten besteht der Lager-Alltag aus Prügel, Folter, Hunger, Demütigung, Beleidigung.

Die Hauptfigur dieses Romans heißt Murat Kurnaz, ein frommer Moslem und ein Unschuldslamm, wie alle seine Mithäftlinge. Das KZ ist das Internierungslager Guantanamo Bay auf Kuba. Das Buch heißt
"Fünf Jahre meines Lebens". Es wird als Sachbuch verkauft.

Jede Schauererzählung, die irgendeiner der bislang über 340 Entlassenen oder ihrer Anwälte einer sensationslüsternen Presse verkauft hat, wird hier nicht nur vom Hörensagen wiedergegeben, sondern von der Hauptfigur am eigenen Leib erlitten. Freilich kann es dabei schon mal vorkommen, dass Kurnaz mit Elektroschocks gefoltert wird, während ihn Soldaten festhalten. Die armen Soldaten, kann man da nur sagen. Man fragt sich auch, weshalb die jahrelange Folter und die Hungerrationen so gar keine Spuren hinterlassen haben. Aber was kümmern uns technische Details? Kurnaz bestätigt dem dauerempörten deutschen Linken, was der immer schon wusste. Wie ihm damals die Anwälte der RAF-Terroristen bestätigten, dass der faschistoide Staat BRD diese Freiheitskämpfer mit Isolationsfolter vernichten wollte und in Stammheim ermordete.

Kuhns Roman ist für den Journalisten Hans Leyendecker, der auch schon mal auf eine RAF-Legende hereingefallen ist, "ein erschütternder Bericht und ein einzigartiges Dokument". Erschütternd ist allerdings die Rezeption des Romans. Die Gruselhöhepunkte aus Kuhns Erzählung werden in der Presse unhinterfragt als Tatsachenbericht wiedergegeben; als könne diese fortwährende Quälerei unter den Augen des Roten Kreuzes stattfinden, das seit Anfang 2002 auf Wunsch der US-Regierung die Anlage regelmäßig kontrolliert und zu allen Gefangenen Zugang hat. Und Kurnaz, bis vor kurzem noch für die Journaille der "Bremer Taliban", mutiert zu einem naiven Märtyrer des rechten Glaubens.

Nach eigener Auskunft schloss sich Kurnaz in Bremen der Gruppe Jamaat Tablighi an und besuchte deren Schulungszentrum in Pakistan. Experten bezeichnen diese von saudischen Wahabiten finanzierte Gruppe als Hauptrekrutierungsagentur für den weltweiten Terror. Die Liste der inhaftierten Terroristen, die sich zu den Tablighi zählen, liest sich wie eine Who’s Who des Massenmords. Tablighi-Missionare ziehen durch westliche Länder und sprechen gezielt junge Männer an. Die eifrigsten Konvertiten werden nach Pakistan eingeladen, wo sie in den Moscheen von Al-Qaida-Rekrutierern angesprochen werden. Kurnaz' Flugkarte nach Pakistan wurde bezahlt von seinem Freund Sofyen Ben Amor, der Kontakt zu den Taliban und zu radikalen Islamisten in Deutschland hatte. Kurnaz' Begleiter hieß Selcuk Bilgin, der aber am Flughafen Köln festgenommen wurde, weil seine Familie der Polizei mitteilte, er wolle sich in Afghanistan dem Kampf gegen die Amerikaner anschließen.

Kein Wunder also, dass weder die deutsche noch die türkische Regierung es besonders eilig hatte, Kurnaz den Amerikanern abzunehmen, als die recht bald feststellten, er sei allenfalls als Sympathisant einzustufen. Er würde heute genauso handeln wie damals, sagte Frank-Walter Steinmeier kürzlich vor dem BND-Untersuchungsausschuss. Ein starkes Wort. Fünf Jahre Haft ohne Prozess wegen des bloßen Verdachts, Terrorist werden zu wollen? Das ist zu viel, um es milde auszudrücken. Man kann sich vorstellen, dass Murat Kurnaz sich für die gestohlene Lebenszeit wenigstens literarisch rächen will. Das ist sein gutes Recht. Die Pflicht des kritischen Lesers aber ist es, diese Hintergründe bei der Lektüre seines Romans nicht aus den Augen zu verlieren.


Alan Posener, 1949 in London geboren, aufgewachsen in London, Kuala Lumpur und Berlin, studierte Germanistik und Anglistik an der FU Berlin und der Ruhr-Universität Bochum. Er arbeitete anschließend im Schuldienst, dann als freier Autor und Übersetzer. Von 1999 bis 2004 war er Mitarbeiter der "Welt", zunächst als Autor, dann als Redakteur. Seit März 2004 ist er Kommentarchef der "Welt am Sonntag". Posener publizierte neben Schullektüren u. a. Rowohlt-Monographien über John Lennon, John F. Kennedy, Elvis Presley, William Shakespeare und Franklin D. Roosevelt, die "Duographie" Roosevelt-Stalin und den "Paare"-Band über John F. und Jacqueline Kennedy.
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