Der Fall Dreyfus als Thriller

07.11.2013
Der Soldat Alfred Dreyfus wurde im 19. Jahrhundert das Opfer einer antisemitischen Hetzjagd und in einem Schauprozess zu lebenslänglicher Haft verurteilt. Robert Harris stellt die historische Figur ins Zentrum seines Spionageromans und zeigt, wie ein Mensch sozial, moralisch und gesundheitlich vernichtet wird.
Am 4. Januar 1895 wird der französische Hauptmann im Generalstab Alfred Dreyfus wegen Landesverrat zu öffentlicher Degradierung, Entlassung aus der Armee und lebenslänglicher Haft auf der berüchtigten "Teufelsinsel" verurteilt. Der Prozess ist eine Farce. Nicht nur, weil Alfred Dreyfus unschuldig ist, sondern vor allem, weil seine Ankläger und Richter dies wussten. Die Beweise gegen ihn waren gefälscht, und selbst die Fälschungen belasteten ihn nur wegen läppischer Kleinigkeiten, die die totale soziale, moralische und gesundheitliche Vernichtung eines Menschen keinesfalls gerechtfertigt hätten.

Dreyfus wurde Opfer eines antisemitischen Furors, der Frankreich ein Vierteljahrhundert nach der Demütigung durch Preußen im Krieg von 1870/71 schüttelte. Weltberühmt wurde Emile Zolas pathetischer Aufruf "J´accuse" – Ich klage an. Ein flammender Appell an den Präsidenten der Französischen Republik, der nach langem juristischem Tauziehen letztendlich zur vollständigen Rehabilitierung von Dreyfus im Jahr 1906 führte.

In seinem neuen Thriller "Intrige" rekonstruiert Robert Harris den Fall Dreyfus wie eine Spionageaffäre im Sinne John le Carrés. Sein Held, Oberstleutnant Marie-Georges Picquart, – eine historische Gestalt wie fast alle Hauptfiguren des Romans –, steht am Anfang fest auf der Seite des militärischen Establishments; antisemitisch eingestellt ist er zudem. Harris lässt ihn im Zuge der Handlung nun Schritt für Schritt herausfinden, wie heimtückisch und abgefeimt Dreyfus ruiniert wurde, wie diese Manöver dem karrieristischen Kalkül der Militärführung dienten und von ihr erst gedeckt, dann aktiv mitbetrieben wurden.

Der Roman ist konstruiert wie eine Spionageaffäre
Picquart, selbst Teil des Establishments, entwickelt peu à peu ein Gewissen und versucht, seine Vorgesetzten auf die politische Schädlichkeit ihres Handelns im Sinne einer höheren, moralisch einwandfreieren Staatsraison hinzuweisen. Als er im "System" nicht weiterkommt und sogar in Lebensgefahr gerät, wendet er sich an die Öffentlichkeit. Er wird zum "Whistleblower" und zum Helden, der letztendlich alles Material herbeischafft, um die Affäre Dreyfus gut enden zu lassen.

Hier liegt der interessante Dreh des Romans. Zolas "J´accuse" spielt bei Harris nur eine Nebenrolle. Picquart, der anachronistische Edward Snowden jener Tage, Spion und Verräter für die einen, Offizier und Gentleman für die anderen, erringt einen Sieg, den das System am Ende belohnt: Er wird Kriegsminister.

Harris' andere Akzentuierung hat Implikationen: Historisch war Zolas "J´accuse" wichtig für einen "Strukturwandel der Öffentlichkeit", das von Intellektuellen angeführte Durchsetzen zivilgesellschaftlicher Standards gegen eine zentralistisch-feudalistische, militaristische und klerikale Gesellschaft. Gerade der klerikale Aspekt, der aufs engste mit dem Antisemitismus der Affäre zu tun hat, fällt bei Harris unter den Tisch. Picquart als Whistleblower aktualisiert den Stoff. Geschichte scheint sich zu wiederholen, wenn man sie mit den Augen von heute betrachtet.

Besprochen von Thomas Wörtche

Robert Harris: "Intrige"
Aus dem Englischen von Wolfgang Müller
Heyne Verlag, München 2013
622 Seiten, 22,99 Euro