Der Fall der Götter

Von Michael Laages · 14.04.2011
Nur wer das Böse in sich selber zu nutzen versteht, kann überleben. So ist "Der gute Mensch von Sezuan” in Bertolt Brechts Parabel zugleich der schlechte, wie auch in der Inszenierung von Sebastian Baumgarten am Centraltheater Leipzig deutlich wird.
Gut-Sein ist tödlich in der Welt, wie sie ist. Nur wer das Böse in sich selber zu nutzen versteht, kann überleben – und das bisschen an "guten Werken” sichern, das auf Erden möglich war. So ist "Der gute Mensch von Sezuan” in Bertolt Brechts Parabel aus dem Exil zugleich der schlechte - eins ist ohne das andere nicht zu haben.

Denn die Verhältnisse – sie sind halt so. Sebastian Baumgarten, der das oft und gern gespielte Stück jetzt für das Centraltheater in Leipzig auf den Prüfstand gestellt hat, fällt gleich zu Beginn eine Entscheidung, wie sie deutlicher kaum denkbar ist – die Götter, die da auf die Erde kommen (und in die bei Brecht fiktiv-chinesische Stadt Sezuan), um zu überprüfen, ob es dort "gute Menschen” gibt, die nach göttlichen Regeln zu leben verstehen, sind drei Säulenheilige des ehedem real existierenden Sozialismus: Karl Marx, Wladimir Iljitsch Lenin und Mao Tse-Tung.

Auch (und gerade) mit den zutiefst idealistischen Maximen ihres Denkens (das sagt Baumgartens Interpretation) war "Gut-Sein” im wirklichen Leben nicht möglich. Auch deshalb fielen die Mauern. Sie fallen gerade wieder – und werden weiter fallen. Brechts China damals könnte China heute werden.

Aus einer Art Video-Animation treten die Götter heraus zu Beginn; und ziehen fortan in den blauen Anzügen und blauen Mützen sowie mit den roten Halstüchern der alten Revolutionen von damals durch die Geschichte der Prostituierten Shen-Te, die auserkoren (und mit viel Geld ausgezeichnet) wird als "guter Mensch” im Elend der Städte.

Prompt - das erzählt Brechts Fabel- fallen die Parasiten der Armut über sie her, die Vampire aus der sozialen Unterschicht; Shen-Tes Gut-Sein ist billig zu haben, sie kann ja (das ist ihr Beruf!) nicht "nein” sagen. Shen-Te muss sich in den geschäftstüchtigen (den "bösen”) Vetter Shui-Ta verwandeln, um das Kapital zu retten, dass die dankbaren, ums eigene Überleben, um die eigene Autorität besorgten Götter ihr gestiftet hatten. Übrigens hat noch nie und nirgends eine Inszenierung die auffällige Tatsache diskutiert, zu was für einer strategisch klugen Entscheidung die sonst doch eher schlechte Shen-Te hier auf einmal fähig ist ... das bleibt eins von Brechts dramaturgischen Rätseln.

Weil Gut-Sein also ersichtlich nicht möglich ist, müssten eigentlich zum Schluss auch die Ideologen abdanken, und zwar alle, die alten wie die (von Baumgarten klugerweise hinzu erfundenen) neuen, die sich im Finale versammeln – das wollen sie aber nicht und lassen das in und an sich zerrissene Gut-und-Schlechtmensch-Wesen mit sich selber allein. Shen-Te und Shui-Ta, gefangen in derselben menschlichen Hülle, werden wohl eine Art Welt-WG miteinander gründen müssen.

Jenseits der postkommunistischen Grundidee gibt sich Baumgartens Leipziger Brecht-Schau extrem verspielt. Sie setzt grundsätzlich auf sehr komödiantische Darstellungsweisen und beschwört eine Farce, eine Art Brecht-Comic. Die Methode strotzt die erste halbe Stunde über vor Phantasie, verliert sich dann aber ein bisschen zu schnell in den Niederungen der vom Autor extrem weit und breit und detailliert ausgefächerten Fabel.

Das war immer die Schwäche des Stückes: Brechts Sehnsucht, an unendlich vielen Details die eigene Theorie vom Bösen im Guten (und umgekehrt) immer wieder neu zu beweisen. Das Stück ist unendlich lang und dauert auch in Leipzig weit über drei (gefühlte vier) Stunden – Baumgartens Grundidee hätte womöglich die Chance geboten auf radikale Verdichtungen, Verknappungen, Zuspitzungen; ob die berüchtigten Brecht-Erben da mitgemacht hätten, ist zu bezweifeln.

Und so nutzt die Aufführung Brechts Breite für eine Zusatzpointe von beträchtlicher Klasse - Max Renne, Musiker und einer der kreativen Dirigenten im Lande, hat die komplette, immerhin 60 Seiten starke Partitur aufgearbeitet, die Paul Dessau zum "Sezuan”-Stück entwarf. Normalerweise kommen ja nur die fünf Songs vor, und oft selbst die nicht – Renne nutzt in Leipzig auch die Zwischenspiele und textbegleitenden Passagen für eine Art miniaturisierter Musik-Erzählung, die parallel zum Stück abschnurrt; und zwar live, von Keyboard und Klavier. Das ist unbedingt eine Bereicherung, womöglich gar eine Uraufführung ...

Kathrin Angerer, einst hauptsächlich an der Berliner Volksbühne daheim und lange Zeit Frank Castorfs kindhafte Muse, spielt mit erkennbarem Spaß an der Sache das Doppel-Profil von Böse und Gut: die flirrende Wohltäterin in China-Seide und ganz in Schwarz und mit breitkrempigem Hut den ruppigen Cowboy, den Vetter aus Amerika, der ökonomisch für Ordnung sorgt, wann immer sich das bessere Ich verzettelt hat aus Güte.

"West”-Zigaretten lässt er schließlich drehen in der Fabrik des gutschlechten Menschen. Um den herum gibt es zwar eine Menge Personal, aber Brecht kreierte halt in diesem Stück nur Typen rund um nur einen Charakter; den dafür doppelt. Das ist für Ensembles immer undankbar; die Leipziger machen allerdings das Bestmögliche daraus.

Baumgartens Inszenierung findet teils flotte, teils freche szenische Lösungen, verharrt aber letztlich in der Nähe zur Comedy. Zu Beginn versprach dieser Fall der Götter noch einiges mehr.