Der Fahrradkantor

Von Josefine Janert · 21.09.2013
Rund 15.000 Kilometer legt Martin Schulze jedes Jahr mit dem Rad zurück. "Fahrradkantor" nennt sich der freiberufliche Kirchenmusiker. Von Mai bis Oktober ist er in Norddeutschland, Sachsen-Anhalt, Brandenburg und im Erzgebirge unterwegs. Er spielt Orgel in Dörfern und kleinen Städten - wo sonst wenig Kultur geboten wird.
Der Regionalzug nähert sich dem Städtchen Fürstenwalde unweit der polnischen Grenze. Martin Schulze schiebt sein gelbes Rennrad in Richtung Tür. Gleich wird er aussteigen. Schulze ist Jahrgang 1967, ein hagerer Mann mit Nickelbrille und stoppelkurzem, dunklen Haar. Er sieht müde aus. Gestern Abend hat er in der Petrikirche zu Wolgast Orgel gespielt. Dieser Ort liegt 190 Kilometer von Fürstenwalde entfernt, nahe der Ostseeküste. Um rechtzeitig zu seinem nächsten Konzert zu gelangen, ist Schulze früh aufgestanden:

"Na, Pi mal Daumen 2 Uhr 30. Erst mal massenhaft Kaffee in mich reingekippt. Hab mein Fahrrad beladen und bin zum Bahnhof Wolgast gefahren."

Meist fährt Martin Schulze die Strecke zwischen zwei Auftrittsorten mit dem Fahrrad. Mehr als zweieinhalbtausend Kilometer hat er so allein im Juli zurückgelegt. Er war an der Nordsee, in Mecklenburg-Vorpommern, in Brandenburg und in Sachsen-Anhalt. Doch von Wolgast über Berlin nach Fürstenwalde nimmt er ausnahmsweise die Bahn.

"Die Strecke an sich ist nicht das Problem. Bloß ich hätte mir die ganze Nacht um die Ohren hauen müssen. Ich hab das im vergangenen Jahr einmal gemacht, danach ein Chorausflug, das geht alles! Aber erst mal ist das eine sehr waldreiche Strecke, und da weiß man nicht, was mit Wild nachts ist. Und ich hab nun keine Lust, unbedingt nachts einen körperlichen Zusammenstoß mit einem Wildschwein zu haben. Und die B 109 ist auch sehr befahren nachts. Und wenn man wirklich mal einen Sturz baut nachts, es ist unangenehm, einfach!"

Kurz vor neun Uhr ist Martin Schulze am evangelischen Dom St. Marien zu Fürstenwalde angekommen. Um elf Uhr beginnt dort die "Orgelmusik zur Marktzeit", wie das Konzert angekündigt wird. Ein Dutzend Mal ist er in den vergangenen Jahren schon in dieser Stadt aufgetreten.

Schulze schließt sein Rad an, zieht mit geübtem Griff die Noten aus der Fahrradtasche. Der Drahtesel ist sein Markenzeichen. Die Gemeinden, die ihn für Orgelkonzerte buchen, kennen ihn unter seinem Spitznamen: Fahrradkantor.

"Den haben mir meine Mecklenburger Kollegen vor knapp 20 Jahren, vor 15 Jahren mal verpasst. Das kam dadurch, dass ich meine erste Kantorenstelle im südöstlichen Mecklenburg hatte, in Friedland, und dann im Winter per Rad nach Ratzeburg zum Kantorentreffen gefahren bin. Das war Anfang Januar, das waren 230 Kilometer. Und da hieß es: Meine Güte, der Fahrradkantor! Also das hing eigentlich damit zusammen, dass ich einen Führerschein erst sehr spät, mit Ende Dreißig, gemacht habe. Und da blieb eigentlich überhaupt kein anderes Verkehrsmittel als das Fahrrad. Rennrad bin ich schon eh und je gern gefahren.

Als ich dann gemerkt habe, dass die Leute auch ein kleines bisschen drauf anbeißen, wollen wir mal so sagen, dass man da so eine gewisse Sonderstellung einnimmt, macht das natürlich besonders Spaß. Wenn abgekündigt wird: Der Kantor ist heute 130 Kilometer mit dem Rad hierhergekommen: Das ist dann ein gewisser Ansporn."

Eine Dame aus der Gemeinde steigt mit Martin Schulze auf die Empore und zeigt ihm die Orgel. Er ist daran gewöhnt, sich ständig auf neue Instrumente einzustellen. Seine Basis hat er in Frankfurt an der Oder. Dort lebt er mit seiner Frau, einer Tierärztin. Sie macht gerade eine Babypause. Acht Jahre hatten sie und Martin Schulze eine Fernbeziehung. Vor zweieinhalb Jahren gab er dann seine halbe Stelle als Kantor in der Nähe von Cuxhaven auf und zog zu ihr nach Frankfurt an der Oder. Dort leitet er in der kalten Jahreszeit als Freiberufler mehrere Chöre. Da die Kirche sparen muss, ist für ihn in der Region an eine feste Stelle kaum zu denken. Doch Martin Schulze hat aus der Not eine Tugend gemacht. Schon als Student ist er herumgefahren, hat vor allem im Norden und Osten Deutschlands als Organist gastiert.

"Im Lauf der letzten 10, 15 Jahre hat sich schon ein ganz schönes Netzwerk entwickelt. Freunde, Kommilitonen, Bekannte, hinzu kam, auf meiner Stelle an der Nordsee, da hatte ich eine schöne Orgel, wo ich selbst viele Konzerte veranstalten oder organisieren konnte. Da habe ich auch Kollegen eingeladen, mit dem Hintergedanken, eine Gegeneinladung zu kriegen. Also wichtig ist, dass man, wenn man jetzt weiter wegfährt, nicht bloß ein Konzert hat, sondern ein bisschen was am Stück, weil ich doch sehr oft für die Kollekte musiziere. Und man muss ja auch irgendwie leben. Und da versuche ich dann schon, mir noch einige Dinge weiter zu organisieren. Ich rufe dann bei den Pastoren an und bei den Kollegen und frag: Passt mal auf, ich bin da, kann ich bei euch gleich was mitmachen? Ich denke, ich bin ein recht anspruchsloser Mensch. Ich schlafe dann auch mal mit Schlafsack und Isomatte im Gemeindehaus, das ist überhaupt kein Problem. Im Gegenteil: Das macht viel Spaß."

Oft spielt er auch für die festen Sätze, welche die Kirche für die Auftritte von Musikern vorsieht. Als ihre Tochter noch nicht geboren war, kam auch Martin Schulzes Frau manchmal mit auf die sommerlichen Konzertreisen. Sie trat als Gesangssolistin auf, während er Orgel spielte. Jetzt radelt er allein durch Deutschland. Alle zwei Wochen fährt er nach Hause, um frische Wäsche zu holen. Und natürlich auch, um sein Kind zu sehen.

"Meine kleine Tochter, die fragt sonst auch, wer der Onkel ist, der irgendwann mal kommt. Die ist jetzt neun Monate alt."

Zeit für eine Kaffeepause in der kleinen Küche hinter der Orgel. Martin Schulze ist ein Kaffeejunkie. Ansonsten ist er durchtrainiert und kerngesund. Muskelkater hat er höchstens noch, nachdem er im Erzgebirge mit seinem Rad auf die Berge gekraxelt ist. Für diese Strapazen entschädigt ihn die Gastfreundschaft. Martin Schulze weiß die Begegnungen zu schätzen. Das Orgelspielen, sagt er, sei seine Form des Gottesdienstes.

"Ich hab's sehr oft erlebt, gerade in kleineren Orten, also ich bin sehr oft in der Altmark, dass sich da die Leute wirklich unwahrscheinlich freuen, wenn da was los ist. Und vor allem: Es stehen da mitunter sehr, sehr schöne Orgeln. Das ist eigentlich auch ein Hauptgrund. Die Instrumente werden viel zu selten gespielt, leider, weil keine Organisten da sind. Und da kann man ruhig die Leute mal mit der Nase reinstupsen: Hört euch mal an, was ihr für ein schönes Instrument habt. Ich hab's schon erlebt, dass man erst mal aus den Pfeifen tote Vögel rausholen musste. Wenn das einmal im Monat gespielt wird, dann ist das ja bei vielen Gemeinden schon ein großer Gewinn. Also, es ist dann schon öfter so, dass die Leute sagen: Mensch, was haben wir für eine schöne Orgel hier! Kommen Sie mal wieder!"