Der "Engel von Kalkutta"

25.10.2006
Mutter Teresa war eine der prominentesten Frauen des 20. Jahrhunderts. Mit ihren "Missionarinnen der Nächstenliebe" setzte sich die 1997 verstorbene Friedensnobelpreisträgerin für die Ärmsten der Armen ein und wurde zu einem Mythos. In "Mutter Teresa" räumt Marianne Sammer mit einigen dieser Mythen auf und versucht sich an einer historisch-kritischen Biographie.
"Von Mutter Theresa gibt es noch keine einzige Biographie, zumindest keine, die diesen Namen auch verdient", meint die Autorin. Bei den 20 Büchern, die bisher über den "Engel von Kalkutta" geschrieben worden sind, handelt es sich größtenteils um Mythen über eine Heilige: ein Gemisch aus Dichtung und Wahrheit. Eine historisch-kritische Biographie hingegen, die sich an die Fakten hält, gibt es bisher nicht. Marianne Sammer versucht in dieser Sache einen ersten Beitrag.

Mutter Theresa – ihr ursprünglicher Name war Agnes Gonxha Bojaxhiu – kommt ursprünglich aus Skopje in Albanien. Bisher hieß es immer, sie sei in Armut aufgewachsen. Das stimmt nicht, kann Marianne Sammer belegen: Agnes stammt aus großbürgerlichem Hause, der Vater war Chef eines Handelsunternehmens, auch nach seinem frühen Tod hatte die Familie ein gutes Auskommen: Agnes und ihre beiden Geschwister haben eine ausgezeichnete Schulbildung genossen.

Aus Agnes Bojaxhiu wurde "Schwester Theresa", als sie mit 18 Jahren einem katholischen Orden beigetreten und mit ihm nach Kalkutta gezogen ist. Dort war sie 15 Jahre als Lehrerin tätig an einer Schule für "höhere Töchter" und hat recht komfortabel gelebt. Ganz im Gegensatz zu den Menschen in den Slums, und die Slums waren gleich um die Ecke.

War es eine plötzliche Eingebung, eine göttliche Offenbarung , die Schwester Theresa veranlasst hat, ihr bequemes Leben aufzugeben und einen eigenen Orden zu gründen, um den Ärmsten der Armen zu helfen? So nämlich behaupten ihre ersten Biographen: Theresa hätte die Slums von Kalkutta nie zuvor betreten, sie folgte jäh einem göttlichen Befehl: wie Saulus, den Christus selbst in seinen Dienst gerufen hat. Die Autorin dagegen nimmt an: dieser Entschluss ist langsam gereift. Viele von Theresas Schülerinnen waren regelmäßig in den Slums unterwegs, um den Armen dort zu helfen. Warum sollte ihre Lehrerin sich ausgeschlossen haben? Marianne Sammer meint: das war kein wundersamer Sinneswandel der Schwester Theresa "von jetzt auf gleich". Das war eine bewusste Entscheidung nach längerem Nachdenken über das Elend nebenan, über ihren Platz in der Kirche und ihre Berufung.

Mutter Theresa hatte von Anfang starke Freunde, die haben ihr auch Kontakt zu den Medien verschafft. Der Erzbischof von Kalkutta gab ihr Geld für ihre erste Hütte in den Slums. Dort zog sie mit sieben Gefährtinnen ein, die meisten waren ehemalige Schülerinnen. Mutter Theresa hat sich sofort Verbündete gesucht bei der indischen Presse und auch bei der indischen Regierung. Die hat ihrem Orden Land geschenkt, damit sie eine Stadt für Leprakranke bauen lassen kann, inklusive Kranken- und Sterbehaus. Das Geld dafür hat sich Mutter Theresa bei wohltätigen Organisationen in aller Welt besorgt.

Dieser unpolitische "Engel von Kalkutta" namens Mutter Theresa, der war ein unglaubliches politisches Talent: ein Organisationstalent und ein diplomatisches Talent vor allem. Politiker in aller Welt wussten ihre Arbeit zu schätzen, der amerikanische Präsident ebenso wie Saddam Hussein oder die englische Queen. Mutter Teresa hat nämlich Probleme gelöst oder zumindest gemildert, die eminent politische Probleme waren. In den USA zum Beispiel hat sie die ersten Sterbehäuser für Aidskranke eingerichtet. Dafür hat ihr Präsident Reagan ihr die Freiheitsmedaille der USA verliehen, die höchste Auszeichnung des Landes.

Es gab aber auch reichlich Kritik an Mutter Theresas Arbeit. Erstens haben Ärzte moniert, die Betreuung der Kranken und Sterbenden in ihren Häusern sei dilettantisch, die Ordensschwestern schlecht ausgebildet. Mutter Theresa hat dem immer widersprochen, die medizinische Grundausbildung ihrer Schwestern müsse genügen. Ansonsten bekämen die Patienten viel Liebe, die Liebe Gottes nämlich. Von der rettenden Liebe Gottes aber hätte die moderne Medizin keine Ahnung.

Ein Zweites: Die "Missionarinnen der Nächstenliebe" bekamen und bekommen Millionenspenden aus aller Welt, aber was genau mit diesem Geld passiert, darüber hat der Orden nie Rechenschaft abgegeben. Motto: "Christus hat sich auch nicht mit Buchhaltung beschäftigt. Unsere Zeit gehört den Armen." Böse Zungen flüstern, da flössen auch Spenden in dunkle Kanäle beim Vatikan. Aber das sind Gerüchte, und zwar aus dem anti-katholischen Lager.

Fakt ist auf alle Fälle eins: Es gibt einen tiefen Graben zwischen dem christlich-religiösen Blick der Mutter Theresa auf die Welt und dem weltlichen Blick auf ihr Werk. Und dieser Graben wird sich wohl nicht schließen lassen.

Das Buch von Marianne Sammer ist nüchtern und sachlich geschrieben, das Werk der Mutter Theresa wird weder glorifiziert noch heruntergespielt. Gleichwohl: auch wenn einem die Geisteshaltung dieser Frau mitunter befremdlich erscheint (das ist ein sehr konservativer Katholizismus, der einem da begegnet), nach dieser Lektüre ist man doch beeindruckt von ihrer Lebensleistung.

Rezensiert von Susanne Mack

Marianne Sammer: Mutter Theresa
C.H. Beck Verlag, München 2006
128 Seiten, 7,90 Euro