Der Bürger als Sicherheitsrisiko

Moderation: Marie Sagenschneider · 25.05.2007
Der Staatsrechtler Martin Kutscha hat insbesondere die Einschränkung des Versammlungsrechts im Zusammenhang mit dem G8-Gipfel scharf kritisiert. Protestaktionen vom Tagungsort fernzuhalten, stelle eine Aushöhlung des Demonstrationsrechts dar, sagte er vor dem Hintergrund des 175. Jahrestages des Hambacher Festes, das unter anderem für Demokratie eingetreten war.
Marie Sagenschneider: Die Party begann am 27. Mai 1832. Es wurde ordentlich gebechert, debattiert, man stritt für liberale Ideen und ging in die Geschichte ein. 175 Jahre ist es her, das Hambacher Fest, das nichts anderes war als eine Großdemonstration und eine Feier in der linksrheinischen Pfalz, die damals zum Königreich Bayern gehörte. (…) Und wie die Ereignisse von damals bis heute wirken, was wir möglicherweise ja auch daraus lernen können für die aktuelle Debatte über die Einschränkung von Grundrechten, darüber wollen wir nun mit Martin Kutscha sprechen. Er ist Professor für Staats- und Verwaltungsrecht in Berlin und hat in dieser Woche den alternativen Verfassungsschutzbericht mit herausgegeben. Herr Kutscha, ich grüße Sie!

Martin Kutscha: Ja, guten Tag!

Sagenschneider: Was sind denn die wichtigsten Impulse, die vom Hambacher Fest ausgingen?

Kutscha: Also, einmal die Idee der Volkssouveränität, die damals gegen den Feudalismus durchgesetzt werden sollte, aber natürlich auch die klassischen Freiheitsrechte, also Pressfreiheit, was man heute als Pressefreiheit bezeichnet, als Stationsfreiheit, eben die Freiheit, sich zu versammeln und zu vereinigen. Das sind eigentlich auch heute noch ganz wichtige Grundrechte für uns.

Sagenschneider: Nun wissen wir ja, es gab durchaus mehr als eine Party in der Geschichte, die nachhaltige Wirkungen hatte – die Bostoner Tea Party gehört sicherlich dazu – das Hambacher Fest auch?

Kutscha: Auf jeden Fall, ganz klar. Das ist einer der wichtigen Meilensteine eigentlich in der Demokratiegeschichte, kann man sagen.

Sagenschneider: Und heute ist all das, was damals auf dem Hambacher Fest gefordert worden ist, unveräußerliches Grundrecht, wie – Sie haben es angesprochen – die Pressefreiheit in Artikel 5 heute oder die Versammlungsfreiheit in Artikel 8 des Grundgesetzes, wobei die Versammlungsfreiheit ja im Laufe der letzten Jahrzehnte eigentlich erst durch das Bundesverfassungsgericht genauer definiert und auch aufgewertet worden ist, oder?

Kutscha: Das ist völlig richtig. Also, in den 50er Jahren spielte die Versammlungsfreiheit eher ein Schattendasein, auch im verfassungsrechtlichen Bewusstsein, und 1985 hat das Bundesverfassungsgericht mit seinem wegweisenden Brokdorf-Beschluss ein wirklich demokratieangemessenes Verständnis von Versammlungsfreiheit entfaltet. Leider orientiert sich die Praxis daran nicht immer, sondern manchmal ist es so, dass die Gerichte die Polizei daran erinnern müssen, dass die Versammlungsfreiheit ein hochrangiges Grundrecht ist.

Sagenschneider: Was genau war das Wegweisende am Brokdorf-Urteil?

Kutscha: Das Bundesverfassungsgericht hat herausgestrichen, dass die Versammlungsfreiheit ganz wichtig ist für die Demokratie in der Mediengesellschaft, weil in der Mediengesellschaft nur wenige Menschen Zugang zu den Medien haben, das heißt, Menschen haben häufig gar keine andere Möglichkeit, ihre Überzeugung zu äußern, als dafür auf die Straße zu gehen, ihre Überzeugung körperlich sichtbar zu machen, wie das Bundesverfassungsgericht damals sagte.

Sagenschneider: Habe ich das falsch in Erinnerung oder war nicht einer der wesentlichen Punkte daran auch, dass man den Bürgern das Demonstrationsrecht nicht nehmen darf, nur weil möglicherweise Ausschreitungen Einzelner drohen?

Kutscha: Das ist ganz richtig. Das Bundesverfassungsgericht hat gesagt, Ausschreitungen Einzelner dürfen nicht dazu führen, dass sozusagen die Bürger in Kollektivhaftung, in Sippenhaft, genommen wird, man ihnen das wegnimmt. Ein anderer, interessanter Punkt ist, dass damals es ja auch um ein flächendeckendes Demonstrationsverbot geht, genau wie jetzt beim G8-Gipfel, wo sich eigentlich eine ähnliche Thematik stellt. Also insofern darf man mit großer Spannung darauf warten, wie die Gerichte jetzt entscheiden werden.

Sagenschneider: Was würden Sie denn schließen daraus für die aktuelle Debatte jetzt im Vorfeld des G8-Gipfels – müssten demnach Demos am Zaun rund um Heiligendamm erlaubt sein, selbst wenn dann einige der Protestierenden auf Krawalle aus sind? Denn die Mehrheit ist es ja in der Regel nie.

Kutscha: Ja, auf jeden Fall ist es richtig, dass die Staatsgäste geschützt werden müssen, dass eine unmittelbare Gefahr – so wie es das Versammlungsgesetz verlangt – abgewehrt wird. Die Frage ist nur: Besteht eine solche unmittelbare Gefährdung auch noch viele Kilometer vom Tagungsort entfernt? Da würde ich gerne ein ganz großes Fragezeichen anbringen, und ich darf auch noch daran erinnern, dass das Bundesverfassungsgericht ja gesagt hat in seinem Brokdorf-Beschluss, die Veranstalter haben ein Recht, selber zu bestimmen, wo sie demonstrieren wollen, also ein Selbstbestimmungsrecht über den Ort der Demonstration. Auch darüber werden die Richter entscheiden müssen.

Sagenschneider: Man könnte natürlich auch die umgekehrte Frage stellen: Was nützt eine Demonstration, wenn sie dann 20, 30 Kilometer vom eigentlichen Ort des Geschehens entfernt ist?

Kutscha: Genau, genau. Das würde auf eine völlige Aushöhlung der Demonstrationsfreiheit hinauslaufen, wenn man sich das so vorstellen würde.

Sagenschneider: Jetzt kriege ich zwei Dinge, Herr Kutscha, nicht so recht zusammen. Die Vorgaben des Bundesverfassungsgerichts sind ja bindend. Wenn die Karlsruher Richter sagen, das geht so nicht, dann ist der Gesetzgeber aufgefordert, die Bestimmung anzupassen, und wir haben es ja auch gerade wieder erlebt beim Unterhaltsrecht zum Beispiel. Auf der anderen Seite verstößt das, was derzeit in Vorbereitung auf den G8-Gipfel geschieht – wie eben die Überlegung: Demonstrationsverbote am Zaun – gegen die Entscheidung des Bundesverfassungsgerichts, wie sie es gerade skizziert haben. Also ist da kein Verlass drauf, dass der Gesetzgeber im Sinne des Bundesverfassungsgerichts auch handelt?

Kutscha: Ja, wir müssen einfach ganz klar sehen, unser Versammlungsgesetz ist ein Bundesgesetz, was zurückgeht auf das Reichsvereinsgesetz aus dem Jahre 1908, also eine, ich würde doch sagen, eher noch antidemokratische Bestimmung. Natürlich, das jetzige Gesetz stammt von 1953, und was hat man gemacht? Man hat im letzten Herbst die Kompetenz für die Gesetzgebung den Ländern übertragen. Das heißt, das Bundesgesetz gilt nur, soweit die Länder jetzt nicht abweichende Bestimmungen schaffen. Es wäre dringend an der Zeit, dass dieses Versammlungsgesetz liberalisiert würde und der Grundsatz der Verhältnismäßigkeit wesentlich deutlicher in dem Gesetz verankert wird. Das ist die Aufgabe der Gesetzgeber. Aber auch wenn die Gesetzgeber untätig bleiben, bleibt die Praxis, das heißt also, die Genehmigungsbehörden, bleiben an die freiheitliche Ausgestaltung im Brokdorf-Beschluss gebunden. Ganz wichtig: Die Entscheidung des Bundesverfassungsgerichtes hat Bindungswirkung nach Paragraph 31 des Bundesverfassungsgerichtsgesetzes.

Sagenschneider: Würden Sie sagen, dass das inzwischen so was wie Alltag ist, dass die Politik auf diese Art und Weise und eben mit dem Verschieben von Bund nach Ländern die Grundrechte aushöhlt?

Kutscha: Es gibt Tendenzen, manche Entscheidungen des Bundesverfassungsgerichtes nicht wirklich ernst zu nehmen. Also, da denken wir nur an die Menschenwürde, an die Sache mit dem Luftsicherheitsgesetz, wo also wieder versucht wird, doch irgendwelche Ermächtigungen zu basteln, die auch das Töten Unschuldiger durch den Abschuss eines terrorismusverdächtigen Flugzeugs erlaubt. Oder wir denken eben auch an die zunehmenden Möglichkeiten heimlicher Überwachungstechniken, wo auch die Möglichkeit geschaffen wird, dass durch eine Kombination von Überwachungstechniken, also, da gibt es ganz viele technische Möglichkeiten, von der Online-Durchsuchung bis zur Vorratsdatenspeicherung und so weiter, Persönlichkeitsprofile erstellt werden von Menschen, die aus irgendwelchen Gründen in das Visier des Verdachts geraten sind. Und da hat das Bundesverfassungsgericht eben auch gesagt: Die Erstellung von umfassenden Persönlichkeitsprofilen verstößt gegen die Menschenwürde.

Sagenschneider: Deutschlandradio Kultur, wir sind im Gespräch mit dem Staats- und Verwaltungsrechtler Martin Kutscha, der meint, das unsere Grundrechte zunehmend eingeschränkt werden. Wenn man sich, Herr Kutscha, diese ganze Palette mal vor Augen hält, vom großen Lauschangriff über die Datensammelwut des Staates bis hin zu der neuesten Variante, Geruchsproben von Verdächtigen – kann man dann sagen, dass der Bürger mittlerweile als potenzieller Straftäter begriffen wird oder ist das zu hoch gegriffen?

Kutscha: Das kann man schon sagen, dass sich das umgekehrt hat. Dass eben nicht der Verdächtige nur noch beobachtet wird, sondern dass prinzipiell jeder Bürger erst mal als potenzielles Sicherheitsrisiko betrachtet wird. Ich glaube, dass wirklich auch da eine Sensibilität wachsen müsste. Erfreulich ist das Echo auf den Grundrechtsreport, den wir gerade veröffentlicht haben, also, da wäre sehr erfreulich, wenn da eben wirklich mehr Gefühl, mehr Sensibilität in der Öffentlichkeit entstehen würde über diese Fragen, über diese aktuellen Entwicklungen.

Sagenschneider: Sie haben nun vorhin gesagt, das Bundesverfassungsgericht hat eigentlich keine rechte Handhabe, dass seine Vorgaben auch verwirklicht werden, außer es gibt dann eben neue Klagen und der Druck wird stärker. Im Grunde kann Karlsruhe ja nur darauf setzen, dass die Verfassung in der Gesellschaft so verankert ist, dass sich letztlich immer genügend Menschen finden werden, die lautstark protestieren und ihre Rechte verteidigen wollen!

Kutscha: Das ist genau richtig. Eine Verfassung ist nur so stark, wie sie sozusagen auch vom Volk wahrgenommen wird, in die eigene Hand genommen wird und sei es eben auf der Straße, das heißt also, das Versammlungsrecht ist eben auch ein Stückchen gelebter Verfassungsschutz.

Sagenschneider: Haben Sie denn den Eindruck, dass dies noch in ausreichendem Maße geschieht, dass die Verfassung und die Rechte, die sie garantiert, tatsächlich so verankert sind und der Protest dagegen auch lauter werden wird?

Kutscha: Ja, es ist sehr unterschiedlich. Es gibt eben Menschen, die sich mit Talkshows begnügen, aber es gibt eben auch Menschen, auch junge Menschen erfreulicherweise, die auf die Straße gehen und die mit, doch mit kritischen, mit wachen Augen die Entwicklung Deutschlands wahrnehmen und ich kann also nur dazu aufrufen, diese Menschen zu unterstützen und sich nicht schnell einreden zu lassen, dass jeder, der demonstriert, gleich ein Terrorist ist.

Sagenschneider: Sie würden ja nicht eine Parallele zum Hambacher Fest ziehen, was ja der Ausgangspunkt für unser Gespräch gewesen ist, denn kaum war das Fest vorbei, da wurden dann viele verhaftet, die Bürgerrechte wieder eingeschränkt und die Bürger traten ja doch in ihrer Mehrheit den Rückzug ins Private an, ins Biedermeier, und manchmal hat man vielleicht doch ein bisschen den Eindruck, als würden wir hier wieder eine Biedermeierzeit erleben, oder täuscht das?

Kutscha: Doch, das ist ganz richtig. Also, ich denke, diese Gefahr besteht, dass viele sozusagen sich in ihr Privatleben zurückziehen und nur im Konsum ihre Freude finden. Aber, wissen Sie, kurz nach dem Hambacher Fest gab es ja dann hier auch sozusagen den Revolutionsversuch von 1848. Also, man kann nie genaue Prognosen abgeben über die Geschichte. Die Geschichte ist eben häufig überraschend. Und was wir da erleben werden, das weiß ich eben auch nicht genau.

Sagenschneider: Also, auf zur nächsten Revolution! Herr Kutscha, ich danke Ihnen! Martin Kutscha war das, er ist Professor für Staats- und Verwaltungsrecht in Berlin und hat in dieser Woche den alternativen Verfassungsschutzbericht mit herausgegeben, in dem vor der zunehmenden Einschränkung der Grundrechte gewarnt wird. Danke fürs Gespräch und schönen Tag noch!

Kutscha: Danke schön, wiederhören!
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