Der bewegte Darm

Von Peter Kaiser · 09.10.2012
Bauchschmerzen, Blähungen und unregelmäßiger Stuhlgang: Das Reizdarmsyndrom ist ein weit verbreitetes Leiden, doch die Diagnose der Beschwerden ist kompliziert. Forscher aus Jena haben jetzt eine Kapsel entwickelt, die neue Erkenntnisse bringen soll. Unser Autor wagt den Selbstversuch.
"Das ist also ein ganz normaler Nierenschutzgürtel für die Motorradfahrer. Der ist hier mit einem Klettbandverschluss versehen."

Sorgfältig legt mir Wilfried Andrä von der Ernst-Abbe-Fachhochschule in Jena den Motorradgürtel um und verschließt ihn.

"Er trägt an einer Seite eine Tasche, an dem der Akku befestigt ist, der die ganze Anlage betreibt. Auf der Bauchseite befindet sich eine relativ kleine Spule, die das Magnetfeld erzeugt, was wir benötigen. Und außerdem auch den Empfänger für das Magnetfeld, das die Kapsel aussendet. Und dann ist hier noch so ein kleiner Kasten, der die ganze Elektronik enthält. Weiter braucht man nichts. Ich kann mich völlig frei bewegen."

Als der Gürtel gut und sicher sitzt, füllt Wlfried Andrä ein Glas mit Leitungswasser, nimmt die fünf Millimeter große Kapsel in die Hand und gibt mir beides. Mit dem Wasser schlucke ich die Kapsel herunter.

Ein Selbstversuch. Der Hintergrund dafür ist: Von den Tausenden Bundesbürgern, die zu ihren Hausärzten mit unerklärlichen Magen-Darm-Krämpfen gehen, leiden etliche am sogenannten "Reiz-Darm-Syndrom". Das bezeichnet eine Bewegungsstörung des Darms. Blähungen, Krämpfe, unregelmäßige Stuhlgänge sind die Folgen. Per Ultraschall, Magen-Darm-Spiegelung oder Blutuntersuchung versuchen die Ärzte, eine klare Diagnose zu stellen. Doch die Peristaltik des größten menschlichen Organs, also die Darmbewegungen, die beim Reiz-Darm-Syndrom eine wichtige Rolle spielen, sind noch wenig erforscht, sagt Bertram Wiedenmann, Direktor der Klinik für Gastroenterologie an der Berliner Charité.

"Die Peristaltik ist ein Aspekt, der bei uns immer wieder zu kurz kommt.
Fakt ist, dass wir uns den Darm von seiner Innenseite sehr gut angucken können,
dabei eine hohe Auflösung haben, aber was dabei verloren geht und was mindestens ebenso wichtig ist, ist die Tatsache, dass der Darm, wenn Sie so wollen, auch eine Art Muskel ist, und die Muskelaktivität des Darmes ist entscheidend, wie wir ja daran merken, wenn wir Verstopfung haben oder Durchfall oder auch Erbrechen."

Im umfunktionierten Motorradfahrergürtel steckt der handygroße Empfänger, der ortet, wo die Kapsel gerade in meinem Körper ist. Die Kapsel, deren Hülle aus Kunststoff besteht, hat in ihrem Inneren eine aus Eisen/Neodym und Bor gefertigte Magnetkugel. Die ist Anfangs fix unterwegs, sagen die Forscher in Jena.

"Es geht sehr schnell, wenn man vom Mund bis zum Magen warten will, das sind zehn bis zwanzig Sekunden. Schon dort gibt es Störungen beim Schlucken. Das kann man mit unserem System beobachten. Wo bleibt sie hängen, wie schnell geht sie an den verschiedenen Stellen. Im Magen bleibt unsere Kapsel, die ja mit der Speise wandert, ein, zwei, drei Stunden, je nachdem was man gegessen hat. Dann geht die Speise durch den Dünndarm, das dauert so etwa drei bis fünf Stunden. Und vom Dünndarm gehen dann die Speiseteile in den Dickdarm, und dort kann es Tage dauern, bis sie endlich den Ausgang erreichen. Das ist ganz unterschiedlich."

Die Klackgeräusche im Hintergrund erzeugt die Computergrafik, auf der der aktuelle Weg der Kapsel vom Mund zum Dickdarm mit rund 50, je nach der unterschiedlichen Peristaltik des Darmes, angeordneten Punkten markiert ist. Erreicht die Kapsel einen dieser Punkte, wie eine Art Durchgangsstation, ertönt ein Klacken.

"Dieses Bild, das ich hier vor mir sehe, wird dann später auch einmal der Arzt in der Praxis sehen und wird sehen, ist die Kapsel jetzt an diesem oder jenem Ort. Was kann er dann tun?"

Andrä: "Er kann daraus schließen, ob das ein normaler Vorgang ist, oder ob irgendwelche Schwierigkeiten existieren."

Die Nahrungsverarbeitung im Darm variiert je nach Art der Speise. Fett etwa wird anders transportiert als Kohlenhydrate. Was man mit der Kapsel nicht machen kann, sind Schnappschüsse vom Transportvorgang der Speise innen im Mund bis hin zum Darm. Doch der Arzt kann nun exakt nachverfolgen, wie schnell die Speise den Weg nimmt, wo sie sich staut, weil es Bewegungsstörungen gibt, oder wo sie zu schnell ist. Das sind wichtige Aussagen, sagt Bertram Wedemeyer von der Charité, aber noch längst nicht alles. Das neue System aus Jena bietet noch mehr.

"Man kann nicht davon ausgehen, dass eine Tablette, wenn sie aufgenommen wird, wie ein Bötchen auf dem Fluss ganz grade mit gleicher Geschwindigkeit von oben nach unten wandert, sondern das sind zum Teil ruckartige Bewegungen, die von Individuum zu Individuum sehr unterschiedlich sind. Soll heißen, man braucht diese Informationen um auch sicherzustellen, dass jedes Medikament in der gleichen Menge im Blut ankommt."

Das heißt, man kann messen, wie individuell die Darmbewegungen des Patienten sind, um dann die Medikamentenmenge anzupassen.

"Und zum Zweiten bekommt man natürlich auch eine Vorstellung, ob man einen Darm hat, der sich insgesamt schlecht bewegt, oder nur an einigen Stellen sich schlecht bewegt, und damit auch wieder eine Vorstellung, in welcher Form man die Therapie dazu zu gestalten hat."

Handys, versichern die Jenaer Forscher, stören die Kapsel in ihrer Bewegung nicht. Einen Magnetresonanztomographen aber sollte man besser nicht aufsuchen, wenn man die Kapsel intus hat. Sport ist einzuschränken, Liegen, Essen, Schlafen, Trinken aber ist so problemlos wie bei einem Langzeit-EKG. Am Ende wird die Kapsel mit dem normalen Stuhlgang ausgeschieden und fortgespült, versichert Wilfried Andrä.

"Die ist so billig, die ist ein Wegwerfprodukt, die wird also nicht wiedergewonnen."

Je nachdem kann das bis zu einer Woche dauern, zu lange für den Selbstversuch, der an diesem Nachmittag endet.

Wenn sich das Kapsel-System der Jenaer Forscher etabliert hat, ist auch angedacht, die Kapseln mit Wirkstoffen auszurüsten, die dann an ermittelten Positionen im Darm ausgeschüttet werden. Einen Wirkstoff könnte man punktgenau so ausschütten, dass eine krankhafte Darmveränderung somit direkt vor Ort bekämpft wird.

"Die größte Kapsel, die man schluckt, enthält etwa einen Milliliter Wirkstoff. Das würde aber, wenn das konzentrierter Wirkstoff ist, durchaus genügen, wenn man das vergleicht mit der üblichen Gabe, die sich ja im ganzen Körper verteilt, und nicht direkt an dem Ort eingesetzt wird."

Die Zeiten des Reiz-Darm-Syndroms könnten angezählt sein, wenn sich Industriepartner für dieses System gefunden haben. Langsam aber erkennt man, dass herkömmliche Videokapseln ein großes Manko haben.

"Solche Analysen sind wichtig vor allem vor dem Hintergrund, wo jetzt Patienten
zunehmend mit Kapseln, die dann Bilder von innen liefern, untersucht werden, und man natürlich bei diesen bildgebenden Untersuchungen mit der Kapsel sich im Klaren sein muss, dass man nicht von innen eine kontinuierliche Wiedergabe des Darmhohlraumes bekommt, sondern dass diese Kapsel sprunghaft zum Teil einen Meter nach vorne schnellt, und man dann natürlich Areale verpasst, die im Rahmen dieses Sprungs verloren gehen.""