Der besondere Charme der Brache

Von Elisabeth Nehring · 21.07.2013
Vor einigen Jahren wurde der Berliner Ortsteil Schöneweide noch despektierlich als "Schweineöde" tituliert, inzwischen hat sich aber viel getan. In einer früheren Industriebrache hat sich ein neuer Kulturstandort etabliert - und es gibt sogar das "Schöneweide Art Festival".
Eine Sparkasse ist eigentlich immer ein trostloser Ort: das deprimierende Beigebraun in Beigebraun, die Holzimitate, die fleckige Auslegware. Ein leeres Sparkassengebäude verstärkt diesen Eindruck noch. Und so sucht das Auge beim Betreten der "Ex-Sparkasse" in der Wilheminenhofstraße automatisch nach Tröstlichem – und wird von den kleinen Figurinen aufgefangen, die Bildhauerin Susanne Kraißer überall auf zwei Stockwerken platziert hat. Ihre zarten Frauenfiguren erscheinen wie Miniaturerinnerungen an die Menschen, die hier einmal ein- und ausgegangen sind.

Doch das ehemalige Sparkassengebäude ist eigentlich nur ein Nebenschauplatz des ‚Schöneweide Art Festivals’, denn der Berliner Randbezirk – immer wieder mit ‚Ödnis’ und ‚Brache’ assoziiert – beeindruckt eigentlich mit einer ganz anderen Architektur.

"Das Besondere an Oberschöneweide ist das Industrieband, das unter Denkmalsschutz steht, das eine schöne Architektur ist, eine bedeutende Architektur, Industriearchitektur der Anfänge sozusagen. Und diese Architektur zu erhalten und neuer Nutzung zuzuführen – das ist im Moment noch ganz und gar nicht in Sicht, würde ich sagen.

Denn es kann nicht sein, dass man die Hallen durchschneidet und Wohntürme hineinbaut und so grausame Dinge tut. Also es ist eine ganz große Herausforderung, die Industriekathedralen, wie wir sie nennen, weil sie 15 Meter hoch sind und riesengroß – sinnvoll zu nutzen und so Spuren der Großindustrie zu nutzen."

Susanne Reumschüssel sitzt im Vorstand des Vereins ‚Industriesalon Schöneweide’. Beheimatet in einer ehemaligen Lagerhalle auf dem groß flächigen Industriegebiet, präsentiert es alte Objekte der DDR-Fernseh- und Radioelektronik. Im Rahmen des Kunstfestivals sind hier die berührenden Fotographien Harald Hausmanns zu sehen, der den Alltag in der DDR in all seinen Facetten festhielt. Leere Schaufenster, FDJ-Aufzüge, freundliche, schnauzbärtige Familienväter, alte Mütterchen mit vielen Falten im Gesicht – eindrückliche Momentaufnahmen einer vergangenen Welt und Zeit, die besonders gut hier her passen – gerade weil in Schöneweide, noch eher als anderswo in Berlin, etwas von dieser Vergangenheit zu spüren ist.

Nördlich des Spreeufers, in Oberschöneweide, siedelte sich im ausgehenden 19. Jahrhundert der AEG-Konzern auf einem etwa vier Quadratkilometer großen Areal an. Architekt und Designer Peter Behrens errichtete hier einige bedeutende Industriebauten und machte Schöneweide zur Berliner Elektropolis. Noch zu DDR-Zeiten arbeiteten auf dem Gebiet rund 25. bis 30.000 Menschen; erst nach der Wende begann der Abstieg: Werke wurden geschlossen, Gebäude verfielen oder wurden abgerissen.

Heute ist alles in der Hand privater Investoren und während viele Gebäude leer stehen, konnten sich in anderen Künstler großzügige Ateliers einrichten. Das weitläufige Areal wirkt – selbst während eines so großen Events wie dem "Schöneweide Art Festival" – luftig, abgelegen und noch immer fast ein bisschen vergessen. Lutz Längert ist einer der Organisatoren des "Schöneweide Art Festivals":

"Andererseits hat das auch einen unheimlichen Charme und ich finde, Schöneweide steht das gut zu Gesicht, dass man die Brüche hier auch noch sieht, ob die sozialer Seits sind oder auch in der Architektur und in der Bausubstanz. Und das macht den Reiz hier aus und deswegen kommen so viele hier her, die hier auch arbeiten wollen. Viele Leute finden hier ihre Identität – ob es Leute aus dem Ort oder Gäste sind oder Unternehmen – schon über die Industriekultur und das ist das gemeinsame Moment. Es gibt ein großes Interesse einfach bei Künstlern und Kreativen, natürlich, das schreit danach, hier her zu gehen. Es hat einen besonderen Charme. Besonderes Licht finde ich immer an der Spree."

Eine Künstlerin, die in der Atelieretage in Haus 59 am Rande der Spree ihr Atelier bezogen hat, ist Regina Nieke. Die starkfarbigen Bilder der jungen Malerin zeigen isolierte Figuren, die in ihre Umgebung zu diffundieren scheinen. Mal mehr, mal weniger aufgelöst, aber niemals scharf umrissen, erscheinen sie jenseits jeden privaten oder gesellschaftlichen Zusammenhangs, ganz so existenziellen Momenten wie Schmerz, Einsamkeit, Auflösung oder Sehnsucht verhaftet.

"Also grundlegend interessiert mich die Figur, der Mensch, das Sein. Mich interessiert die Existenz: was sind wir, was sehe ich wirklich? Also, ich habe so das Gefühl, wenn ich fotografiere, friere ich so einen gewissen Moment ein, aber wir leben ja, wir bewegen uns ständig. Die Ölfarbe an und für sich hat etwas sehr Fleischliches und ich muss gar nicht viel machen, um das Körperliche in die Bilder zu bekommen.

Also, es ist ja auch die Frage: 'Warum male ich heute? Warum überhaupt Maler sein?' Ich habe ja keinen Auftrag. Ja, eigentlich geht es mir um das Sein. Und ich hoffe, dass ich etwas weiter sagen kann, als das, was bis jetzt gesagt wurde, nämlich, dass wir uns ständig bewegen, dass das Leben, der Unterschied zwischen Leben und Tod diese Bewegung ist."

Regina Nieke zeigt ihre Arbeiten im Rahmen der Gruppenausstellung "G59 plus1", zu der Künstler und Künstlerinnen der Atelieretage jeweils einen Kollegen eingeladen haben. Sehr heterogen ist hier der Eindruck. Nicht alles bleibt so eindrücklich haften wie die Ölmalerei Regina Niekes.

Anders in dem ehemaligen Umspannwerk Oberspree, einige Häuser weiter: die Schau "UmspannZENTRALE" ist sichtbar von einer Hand kuratiert. Der Ire John Power lässt die riesigen, fast sakral wirkenden Hallen auf mehreren Ebenen bespielen: Neben verschiedenen Objekten auf dem Boden oder knapp unter der Decke hängen großformatige Fotographien und Ölgemälde wie Altarbilder vor den meterhohen Wänden.

Dikla Stern malt eine fast kubistisch wirkende, scharf kontrastierte "Nazi-Braut" in Schwesterntracht; der Fotograph Alexander Schippel zeigt die Schöneweider Bärenquell-Brauerei als mittelalterliche Burg, die über der verschneiten Brandenburgischen Landschaft thront, und die scharz-weiß Fotos von Mike Masoni geben den Blick frei auf verlassene Highways oder skelettierte Autos in der gleißende Hitze der amerikanischen Wüste.

Obwohl die Künstler aus ganz unterschiedlichen Kontexten stammen und vollkommen anders arbeiten, entsteht hier der Eindruck, alle Werke korrespondierten – in ganz individueller Weise – mit dem Ort, an dem sie ausgestellt sind. Lutz Längert über "Kunst am Spreeknie":

"Das soll von den Schöneweidern leben. Wir wollen das breit machen, aber das soll schon davon ausgehen von den Leuten, die hier leben. Und da haben viele einen großen nationalen und internationalen Kontext. Und das macht auch den Stadtteil freundlicher und lebendiger, weil in den Medien ist ab und zu von 'Brache' die Rede und noch viel öfter von Nazis. Dass die hier versuchen, sich breit zu machen, ist unbestritten, aber ich denke, dem begegnet man, in dem man andere Lebensentwürfe lebt. Und das führt zu einer viel höheren Akzeptanz und nimmt deren Präsenz weg."

Das "Schöneweide Art Festival" schafft einen guten Überblick über das, was die am Ort ansässigen Künstler produzieren – neben Malerei, Fotographie, Objekt- und Medienkunst auch Mode, Installationen und Trash Art – und wie international die hiesige Kunstszene bereits aufgestellt ist. Und nicht nur das Publikum, auch die Akteure selbst geraten durch die einmal jährlich stattfindende Kunstschau richtig in Bewegung, meint Marlene Lärch, eine der Organisatorinnen:

"Jetzt gerade merkt man eine wirkliche Euphorie unter den Künstlern und unter den Kreativen, die hier sind – mit der Netzwerkgründung, dass die Leute sich kennen lernen, anfangen miteinander zu arbeiten und dass eine richtig neue Bewegung und die schafft eine richtige Euphorie vor Ort."


Mehr Infos im Netz:

Schöneweide Art Festival
Blick auf alte Industriegebäude an der Spree in Berlin-Schöneweide
Blick auf alte Industriegebäude in Berlin-Schöneweide© picture alliance / dpa - Jens Kalaene
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