Der Beinahe-GAU im Donauried

Von Frank Grotelüschen · 13.01.2012
Es war der damals größte zivile Atommeiler der Welt: Der Block A des Kernkraftwerks Gundremmingen ging 1967 ans Netz. Am 13. Januar 1977 kam es hier zum schwersten Atomstörfall in der Geschichte Deutschlands. Der Reaktor wurde stillgelegt und schließlich abgerissen.
Der Kran hievt tonnenschwere Bauteile nach oben – wuchtige Rohrsegmente und Wandungen aus massivem Metall. Es sind Abrissarbeiten. Ein Kernreaktor wird demontiert – ein Meiler, der seit 1977 abgeschaltet ist. Damals, am 13. Januar, erlitt Block A des Kernkraftwerks Gundremmingen einen Totalschaden. Für die deutsche Atomwirtschaft ein herber Rückschlag. Für die noch junge Anti-Atomkraft-Bewegung ein weiterer Grund, gegen die Kernenergie zu Felde zu ziehen – und gegen ihre Befürworter.

"Wenn wir keine Kernkraftwerke anzubieten haben, dann werden wir eines Tages auch keine Staubsauger mehr verkaufen können."

So Siegfried Balke, Bundesminister für Atomkernenergie, im Jahr 1961. Er will Reaktoren in Deutschland bauen, und zwar flächendeckend. 1960 war in Kahl am Main das erste Versuchskraftwerk ans Netz gegangen, ein kleiner Meiler mit einer Leistung von 15 Megawatt. Deutschlands erstes größeres Atomkraftwerk wird im Dezember 1962 genehmigt – im bayerischen Gundremmingen an der Donau östlich von Ulm. 250 Megawatt soll der Siedewasserreaktor leisten – damals der größte Atomreaktor der Welt.

1967 liefert Gundremmingen den ersten Strom. Doch der Betrieb steht unter keinem guten Stern. Immer wieder kommt es zu Störfällen. 1975 sorgt der Meiler für bundesweite Schlagzeilen.

"Am 19. November geschah das erste Unglück mit Todesfolge in einem bundesdeutschen Atomkraftwerk."

"Während einer Reparatur an der unter Druck stehenden Armatur W6 im Primärwasser-Reinigungskreislauf wurde durch austretenden heißen Dampf der Schlossermeister H. sofort getötet und der Schlossermeister Z. schwer verletzt. Letzterer erlag am Morgen des 20.11.1975 seinen Verletzungen."

Heißt es in einem Bericht des Bayerischen Staatsministeriums für Landesentwicklung und Umweltfragen. Beinahe ein GAU, meinen Atomkritiker. Nur ein Betriebsunfall, wie er in vielen Fabriken passieren könnte, sagen die Betreiber. Das Bayerische Umweltministerium verspricht, der Sicherheit des Meilers fortan größere Aufmerksamkeit zu schenken:

"Würden sich Bedenken hinsichtlich der Sicherheit der bereits in Betrieb befindlichen Kernkraftwerke ergeben, so müssten diese entsprechend nachgerüstet, gegebenenfalls sogar stillgelegt werden."

Erwägungen, die schneller relevant werden als es sich die Kraftwerksbetreiber träumen lassen: Am Abend des 13. Januar 1977 ist es bitterkalt in Bayerisch Schwaben. Eisregen und Raureif lassen die Isolatoren einer Hochspannungsleitung brechen. Um 21 Uhr 17 muss der Reaktor vom Netz genommen werden. Dabei kommt es zu einem Kurzschluss. Zwar greift die Schnellabschaltung wie geplant. Doch der Druck im Reaktorkern steigt. Sicherheitsventile öffnen, 200.000 Liter radioaktiver Dampf strömen ins Reaktorgebäude und setzen es drei Meter hoch unter Wasser. Die Kraftwerksleitung sagt, sie habe den Störfall im Griff.

"Es kam zu keiner Freisetzung von radioaktiven Stoffen nach außen. Eine Gefahr für Mensch und Umwelt gab es durch diesen Störfall nicht."

Zunächst hofft man, den Schaden schnell beheben zu können. Arbeiter pumpen das radioaktive Wasser heraus und reinigen die kontaminierten Teile mit Bürsten und Dampfstrahlgebläsen. Doch dann entdeckt der TÜV an den Rohren des Kühlkreislaufs feine Risse. Die Betreiber, die Bayernwerke und die Rheinisch Westfälischen Elektrizitätswerke, werden aufgefordert, Teile des Reaktors auszutauschen und ein verbessertes Sicherheitskonzept vorzulegen. Ein kostspieliges Unterfangen. Schließlich wird die Sache den Konzernen zu teuer.

"Da zu dieser Zeit bereits die Blöcke B und C als Großkraftwerke im Bau waren, wurde 1980 beschlossen, die Anlage Block A aus wirtschaftlichen Gründen endgültig stillzulegen."

1983 beginnt der Abriss von Block A. Für die Belegschaft der Anfang einer neuen Zeit.

"Am Anfang ist es schwierig, auch für mich damals. Das ist ein psychologischer Effekt, den muss man überwinden. Aber es stellt sich dann raus, dass ingenieurmäßig der Abriss eines Kraftwerks sehr interessant ist. Und das macht einfach Spaß."

Mittlerweile ist der Reaktor weitgehend demontiert. Nur die Gebäude stehen noch. In einem Teil ist ein Technologiezentrum untergebracht, das den benachbarten Blöcken B und C zuarbeitet. 1984 gingen diese beide Blöcke ans Netz – und machten Gundremmingen zum größten Kernkraftwerk der Bundesrepublik. Doch auch seine Tage sind gezählt: 2021 soll Gundremmingen endgültig abgeschaltet werden, so will es der Atomausstieg.