Depression als Volkskrankheit

Zu Gast: Ulrich Hegerl und Holger Reiners · 28.11.2009
Die tragische Selbsttötung des Fußballers Robert Enke hat es einmal mehr deutlich gemacht: Die Depression gehört zu den großen Volkskrankheiten und ist dennoch die am meisten unterschätzte: Etwa vier Millionen Menschen in Deutschland sind akut behandlungsbedürftig, jeder Fünfte erlebt mindestens einmal in seinem Leben eine depressive Phase. Wie Robert Enke sind viele von ihnen suizidgefährdet.
Jedes Jahr unternehmen etwa 100.000 depressiv Erkrankte einen Selbstmordversuch. 9000 von ihnen erreichen ihr Ziel tatsächlich. Zahlen, die auch auf der internationalen Jahrestagung der Deutschen Gesellschaft für Psychiatrie, Psychotherapie und Nervenheilkunde (DGPPN) in Berlin diskutiert werden, die vom 25. bis 28. November in Berlin stattfindet.

Einer der fast 8000 Teilnehmer ist Prof. Dr. Ulrich Hegerl. Der Psychiater versucht seit langem, das gesellschaftliche Tabu rund um die Depression zu brechen. "Man hat lieber ein Burn Out oder chronische Rückenschmerzen, als eine Depression", weiß der Leiter der Klinik für Psychiatrie und Psychotherapie an der Universität Leipzig. Nur etwa bei jedem Dritten werde die Depression überhaupt erkannt. "Und wiederum nur sechs bis neun Prozent dieser behandlungsbedürftigen Patienten bekommen eine wirksame Therapie", sagt der Sprecher des Kompetenznetzwerkes Depression / Suizidalität und Vorstandvorsitzender der Stiftung Deutsche Depressionshilfe.

Ziel seiner Bemühungen: Ein möglichst engmaschiges Angebot für Betroffene und deren Angehörige zu schaffen, aber auch ein fachliches Angebot für Ärzte.

Die Kernbotschaften Hegerls und des Kompetenznetzes:
• "Depression kann jeden treffen"
• "Depression hat viele Gesichter"
• "Depression ist erfolgreich behandelbar."

Dies versucht auch Holger Reiners, Betroffenen zu vermitteln.
Der Unternehmensberater litt insgesamt fast 20 Jahre an schweren Depressionen und hat über diese Zeit - und seinen Weg, heraus zu finden - mehrere Bücher geschrieben. Als er erkrankte, war er 17 Jahre alt. "Als ich das erlebt habe, war die Diskussion nicht so weit wie heute. Erst einmal hatte man so etwas nicht, als Sohn aus gutem Hause sowieso nicht. Und als Eltern hatte man auch nicht so einen Sohn."

Die Eltern schicken ihn von einem Arzt zum anderen, diese probieren die abenteuerlichsten Therapien an ihm aus. Bis endlich ein Psychiater eine Depression diagnostiziert, dauert es zehn quälende Jahre. Und wiederum fast zehn Jahre, um ihn wieder aus der Krankheit herauszuholen.
Die Depression ist für ihn "Der Krebs der Seele. Weil der Zustand so hart ist, sonst hätte sich der Enke nicht umgebracht. Dieses nagende Gefühl, das man hat, dass man immer weniger wird. So müssen sich Krebspatienten fühlen, jeder ahnt, dass es zu Ende gehen kann, dass es Rezidive geben kann. Diese Angst schwingt immer mit."

Das Prinzip Hoffung gebe es für Depressive nicht, dies mache es für Angehörige auch so schwer, zu helfen.
"Das Kraftwerk des Ichs, die Seele, arbeitet nicht mehr wie gewohnt. Inhalte, wie Zukunft, Planung, Lebensziele und Glück haben keine Wirkung mehr. Alles Tun, alles Denken, unterliegt dem Einfluss der Niedergeschlagenheit, Zweifel, Angst – Lebensangst."

Seine akute Erkrankung liegt mittlerweile über 20 Jahre zurück, als geheilt betrachtet sich der heute zweifache Vater dennoch nicht. "Ich sage immer, dass meine Depression gezähmt ist, wie eine Schlange. Wenn sie ihr genug zu fressen geben, wird sie nicht beißen. Wenn sie Hunger hat, schon. Deshalb schaue ich, dass ich mich nicht in Situationen bringe, wo die Depression zurückkommt."
Seine Botschaft: "Mit Depressionen lässt sich leben – im glücklichsten Falle sogar gut."

"Depression - Die verkannte Volkskrankheit" Darüber diskutiert Gisela Steinhauer heute von 9 Uhr 07 bis 11 Uhr gemeinsam mit Ulrich Hegerl und Holger Reiners. Hörerinnen und Hörer können sich beteiligen unter der kostenlosen Telefonnummer: lautet: 00800 / 2254 - 2254 oder per E-Mail unter gespraech@dradio.de.

Informationen im Internet unter www.kompetenznetz-depression.de oder www.buendnis-depression.de. oder http://www.deutsche-depressionshilfe.de/


Literaturhinweis:
• Ulrich Hegerl, David Althaus, Holger Reiners, "Das Rätsel Depression – Eine Krankheit wird entschlüsselt", Verlag C. H. Beck, München 2006.
• Ulrich Hegerl, David Althaus, Holger Reiners, "Depressiv?", Kösel-Verlag, München 2006.
• Holger Reiners, "Die gezähmte Depression. Erfülltes Leben nach der Krankheit", Kösel-Verlag 2007
• Holger Reiners, "Das heimatlose Ich: Aus der Depression zurück ins Leben", Kösel-Verlag 2002