Deportation, Zwangsaussiedlung und ethnische Säuberung

04.05.2010
Nahezu das ganze 20. Jahrhundert hindurch galt Zwangsmigration in Europa als mehr oder weniger legitimes Mittel der Politik - seit der Konvention von Lausanne, die 1923 einen Bevölkerungsaustausch zwischen der Türkei und Griechenland festschrieb.
Im und nach dem Zweiten Weltkrieg wurden viele Millionen Menschen in Europa in alle Richtungen verschoben. Doch der Geist von Lausanne wirkte noch viel länger nach: In Zypern fand Mitte der 70er-Jahre ein staatlich verordneter Bevölkerungsaustausch zwischen Griechen und Türken statt – unter Kontrolle der UN; in den späten 80er-Jahren schob Bulgarien mehrere Hunderttausend seiner muslimischen Staatsbürger in die Türkei ab. Abgesehen von den Betroffenen interessierte das kaum jemanden.

Erst die "ethnischen Säuberungen" als Mittel der Kriegsführung im ehemaligen Jugoslawien der 90er-Jahre führten zu einem Umdenken in Europa. Im Dayton-Vertrag wurden die Konfliktparteien 1995 verpflichtet, Flüchtlinge und Vertriebene wieder aufzunehmen.

Nun ist im Böhlau-Verlag ein "Lexikon der Vertreibungen" erschienen. In 308 Schlagworte geordnet spiegelt dieses Nachschlagewerk das gesamte Vertreibungsgeschehen im Europa des 20. Jahrhunderts. Die Benutzer können unter Regionen oder Nationen nachschlagen, können nach prominenten Tätern und Opfern der Zwangsmigration suchen, staatliche Abkommen, Gesetze und Verordnungen in Augenschein nehmen.

Sie können sich über Initiativen und Einrichtungen der Erinnerungspolitik zur Vertreibung informieren, über Museen und Denkmäler, welche, wie sich zeigt, gerade in der Bundesrepublik Deutschland in großer Zahl vorhanden sind.

Für die Herausgeber des Lexikons, die Historiker Holm Sundhaussen, Detlef Brandes und Stefan Troebst, stellt Quantität allerdings kein Kriterium dar. Obwohl Deutschland und den Deutschen in Sachen Zwangsmigration als Opfer und Täter eine zentrale Rolle zukommt, werden auch kleinere Gruppen und weniger bekannte Schauplätze gleichberechtigt behandelt. Über 100 Autoren aus verschiedenen Ländern wurden für das Vorhaben engagiert. Sie liefern gut lesbare Beiträge mit umfangreichen Hinweisen auf weiterführende Literatur.

Die Idee zum "Lexikon der Vertreibungen" hatte der Berliner Südosteuropahistoriker Holm Sundhaussen. Angeregt wurde er dazu durch die Diskussion über ein Zentrum gegen Vertreibung in Deutschland. Als Gegenmodell zu den damaligen, auf Deutschland konzentrierten Vorstellungen der Vertriebenen-Funktionärin Erika Steinbach schlugen Sundhaussen und andere vor, eine gesamteuropäische Sicht des Problems Vertreibung in der Form eines Lexikons zu präsentieren. Unterstützt wurde das Vorhaben vom Europäischen Netzwerk Erinnerung und Solidarität, das von Deutschen, Ungarn, Slowaken und Polen als erinnerungspolitische Alternative zu den Ideen von Erika Steinbach ins Leben gerufen worden ist.

Demnächst soll das 800 Seiten umfassende Buch in weitere Sprachen übersetzt werden. Im deutschsprachigen Raum möchte man ihm schon jetzt einen festen Platz als Standardwerk in Schulen, Bibliotheken und Redaktionen wünschen.

Über die Herausgeber:
Detlef Brandes, Holm Sundhaussen und Stefan Troebst sind profilierte Historiker mit Schwerpunkten zu Ost- und Südosteuropa an verschiedenen deutschen Universitäten. Das Lexikon ist das jüngste internationale Gemeinschaftsvorhaben des Europäischen Netzwerks Erinnerung und Solidarität.


Besprochen von Martin Sander

Lexikon der Vertreibungen – Deportation, Zwangsaussiedlung und ethnische Säuberung im Europa des 20. Jahrhunderts
Herausgegeben von Detlef Brandes, Holm Sundhaussen, Stefan Troebst, in Verbindung mit Kristina Kaiserová, Dmytro Myeshkov, Krzysztof Ruchniewicz
Böhlau Verlag, Wien
801 Seiten, 99,00 Euro