Depenheuer / Grabenwarter (Hg.): "Der Staat in der Flüchtlingskrise"

Besorgte Juristen

Schleuser weisen Flüchtlinge am Strand von Ayvacik am 03.11.2015 in ein Schlauchboot für die Überfahrt nach Lesbos.
Schleuser weisen Flüchtlinge am Strand von Ayvacik in ein Schlauchboot für die Überfahrt nach Lesbos; Aufnahme vom November 2015 © dpa / picture-alliance / Cihan Acar
Von Ernst Rommeney · 13.02.2016
Aktuelle Aufsätze von 16 Juristen zur Flüchtlingspolitik finden sich im Sammelband "Der Staat in der Flüchtlingskrise". Inhaltlich sind sie alles andere als neutral, spiegeln vielmehr in vielen Punkten das Denken von CSU-, früheren CDU- und vielleicht heutigen AfD-Wählern wider.
Im Dezember 2015 trafen sich 16 Professoren, um über die juristischen Begleitumstände der Flüchtlingskrise zu beraten. Zwei Monate später liegt ihr Buch dazu schon vor – für diese Zunft ein rekordverdächtiges Tempo.
Können die Aufsätze darin wohl abgewogen sein? Oder ist "Der Staat in der Flüchtlingskrise" ein politisch gemeintes Debattenbuch, das die Regierung beeinflussen will?
Schon der Untertitel "Zwischen gutem Willen und geltendem Recht" lässt erkennen, dass es sich nicht um wertungsfreie Fachtexte handelt. Die allermeisten der Autoren – nur eine Frau ist darunter – finden die derzeitige Flüchtlingspolitik nicht nur falsch, sondern konstatieren Rechtsbrüche der Regierung.
Dreh- und Angelpunkt ist die Verantwortung der deutschen Politik für den deutschen Bürger statt für einen abstrakten Weltethos. Syrien falle nicht unter den Eid der Kanzlerin. "Nur dem ‚deutschen Volk’ gegenüber haben deutsche Amtsträger Amtspflichten", schreibt etwa der Herausgeber Otto Depenheuer und konstatiert ein Versagen des Rechtsstaates bei der Bewältigung des Flüchtlingsansturms. Offene Grenzen und nicht registrierte Flüchtlinge gefährdeten die Staatlichkeit insgesamt.
Menschenrechte dürften so kaum langfristig garantiert sein: "Ein flüchtiger Rechtsstaat ist kein Segen für die große Idee der Menschenrechte, sondern im Gegenteil: das Ende ihrer rechtspraktischen Wirksamkeit."
Starke Worte, suggestive Bilder
Wer erwarten würde, dass Juristen qua ihres Selbstverständnisses nicht noch Öl ins Feuer einer lodernden Debatte gießen, sieht sich getäuscht. Die Herausgeber beginnen gleich mit einer Breitseite: "Der Rechtsstaat ist im Begriff, sich im Kontext der Flüchtlingswelle zu verflüchtigen, indem das geltende Recht faktisch außer Kraft gesetzt wird. Regierung und Exekutive treffen ihre Entscheidungen am demokratisch legitimierten Gesetzgeber vorbei, staatsfinanzierte Medien üben sich in Hofberichtserstattung, das Volk wird stummer Zeuge der Erosion seiner kollektiven Identität."
Wie es aussehen mag, wenn kollektive Identität erodiert, fasst der Völkerrechtler Martin Nettesheim in ein suggestives Bild: "Auch im Prozess gelungener ‚Integration’ einer Vielzahl von Menschen wird das Substrat der unter dem Grundgesetz zu beobachtenden Gemeinschaftlichkeit nicht unberührt bleiben – so, wie die Auflösung eines Zuckerwürfels den Tee nur scheinbar unverändert lässt."
Das Volk soll sich nicht verändern
Menschen sind keine Zuckerwürfel, aber in welche Richtung das Bild zielt, erkennt ein wacher Leser der Aufsätze rasch. Unter dem Dach eines scheinbar abstrakten und wertfreien juristischen Diskurses gewähren die konservativen Intellektuellen ihren Lieblingsbegriffen Asyl: Der Identität, dem Volk und der Nation.
Deren definitorische Unschärfe führt dann schnell zu Ex-cathedra-Urteilen. So bestimmt der Staatsrechtler Dietrich Murswiek für die Migrationspolitik: "Sie darf nicht die Überwindung des Nationalstaats durch eine multikulturelle Gesellschaft oder gar einen Vielvölkerstaat anstreben. Die Entstehung ethnisch-religiöser und sprachlicher Parallelgesellschaften darf weder geplant noch in Kauf genommen werden."
Es gelte generell zu vermeiden, dass sich das Volk durch Zuwanderung verändere. Einer atemberaubenden Kasuistik bedient sich Murswiek dann beim Vorwurf gegen Angela Merkel: "Die Regierung darf nicht die Identität des Volkes, dem sie ihre Legitimation verdankt, strukturell verändern. (...) Indem die Bundeskanzlerin eine Entscheidung trifft, die sich auf die Identität des Volkes und auf den Charakter des Staates als des Nationalstaats dieses Volkes gravierend auswirkt, ohne das Volk zu fragen, macht sie sich selbst zum Souverän. Das ist mit dem Prinzip der Volkssouveränität nicht vereinbar."
Das klingt fast so, als habe Merkel nicht auf einen Notstand reagiert, sondern willentlich versucht, den deutschen Staat in seiner Substanz zu beschädigen – zu welchem Zweck auch immer.
Wer so argumentiert, gelangt dann mühelos auch zu "Obergrenzen" und konkreten Zahlen: "Die sich unter dem Aspekt der Nationalstaatlichkeit aus dem Grundgesetz ergebende Obergrenze für die Aufnahme von Immigranten", schreibt Murswiek, "ist mit einer Million von Deutschland aufgenommener Flüchtlingen im Jahr 2015 schon evident überschritten worden."
Wie er zu dieser Zahl kommt, sagt er nicht. Judex non calculat heißt es ja schon im römischen Recht: Der Richter rechnet nicht.
Flüchtlinge bleiben nicht ewig
Zumindest diesen Punkt sieht der Staatsrechtler Christian Hillgruber differenzierter. Bürgerkriegsflüchtlinge, sagt er, sind keine Arbeitsemigranten und keine Asylbewerber. Sobald sich die Lage in ihrer Heimat bessere, müssten sie zurückkehren – nur so könne weltweite Flüchtlingshilfe überhaupt funktionieren. Wenn alle dauerhaft blieben, gäbe es bei künftigen Krisen bald keine Aufnahmeländer mehr.
Auch Hillgruber hat ein Bild parat: "Das Haus Deutschland sollte nicht hermetisch abgeriegelt sein, sondern Eingangstüren haben. Aber die eine Eingangstür hat letztlich Drehtürcharakter; durch sie können Flüchtlinge eintreten und sich im Falle festgestellter Schutzbedürftigkeit vorübergehend in Deutschland aufhalten, um nach Wegfall dieses Aufenthaltsgrundes Deutschland durch dieselbe Tür wieder in Richtung Heimat zu verlassen. Durch die andere Eingangstür erhalten Arbeitsmigranten Zutritt, sofern sie den diesbezüglichen Vorstellungen und Erwartungen Deutschlands entsprechen. (...) Diese Tür hat allerdings keinen Türgriff, mit dem man die Tür von außen öffnen und nach eigenem Gutdünken das Haus betreten könnte. (...) Dafür hat diese Tür einen Briefschlitz, in den die Bewerbungsunterlangen eingeworfen werden können."
Romantiker gegen Romantiker
Für den konservativen Diskurs ist das ein fast schon erstaunliches Zugeständnis: Deutschland braucht eine Einwanderungspolitik.
In fast allen anderen Punkten spiegelt "Der Staat in der Flüchtlingskrise" das Denken von CSU-, früheren CDU- und vielleicht heutigen AfD-Wählern wider. Das ist legitim und an vielen Stellen erhellend. Ob es sich in der politischen Landschaft durchsetzt, bleibt allerdings schon deswegen fraglich, weil diejenigen Autoren, die den Flüchtlingspolitikern Menschenrechtsromantik vorwerfen, selbst Romantiker sind – nur eben solche, die sich nach Volk, Nation, Identität und stabilen Werten sehnen.
Romantiker aber werden meist von der Wirklichkeit enttäuscht.

Otto Depenheuer, Christoph Grabenwarter (Hg.): Der Staat in der Flüchtlingskrise – Zwischen gutem Willen und geltendem Recht
Verlag Ferdinand Schöningh, Paderborn 2016
270 Seiten, 26,90 Euro